Seite:Die Gartenlaube (1856) 216.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

für recht und billig hält, nichts zu thun. Ja, der strenge, erfahrene, praktische Richter unserer Zeit selbst muß erst aus unabsehbaren Labyrinthen von Rechts- und Gesetzparagraphen und Anmerkungen und Erläuterungen dazu eine Stelle heraus speculiren, um über einen vorliegenden Fall begangenen Unrechts zu entscheiden. Das Rechtsgefühl, selbst das gebildete Rechtsbewußtsein des edeln Richters wird nicht gefragt. Dieses entscheidet oft, ja, in der Regel ganz anders, als das alte, wie eine ewige Krankheit fortgeerbte Gesetzbuch, und der unparteiische, noble Mensch urtheilt immer anders und besser, wo der Parteiische sagt: „Es ist ihm schon Recht.“

Hier eröffnet sich ein weites Feld für Geltendmachung der Humanität, physiologischer und socialer Einsicht, welche den Verbrecher und jedes Vergehen immer viel richtiger und milder beurtheilt als das Gesetz und selbst als das unmittelbare Rechtsgefühl. Die sociale Einsicht in die Quellen der Verbrechen reicht allein hin, uns demüthigend milde zu stimmen, wenn wir Gefängniß, Zuchthaus, Schaffot und Galgen vor uns haben. Fast durchweg läßt sich in jedem Verbrechen als Quelle der Schuld die bestehende sociale und politische ungesunde Construction des Lebens nachweisen, was Bettina überraschend richtig in ihrem „Königsbuche“ nachweist und in den Satz zuspitzt: „Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen.

Mehr oder weniger fühlen dies auch die Staaten bereits, die Gesetzgeber, die Richter, die Regenten, und haben, die Mängel ihres Rechts in einzelnen Fällen wieder gut zu machen, verschiedene Hülfsmittel; aber diese beschränken sich bis jetzt blos auf einzelne Fälle, die nur in England, wo der Widerspruch zwischen Gesetz und Humanität am Schreiendsten ist, bis zu förmlichen Institutionen und Gebräuchen ausgebildet wurden. In deutschen Staaten haben wir blos eine Spur, einen Keim davon in dem Begnadigungsrecht der Krone, in Amnestien bei einzelnen feierlichen Gelegenheiten.

In England wird erstens das Begnadigungsrecht der Krone sehr häufig von den Richtern und Geschwornen unterstützt und dann selten verweigert. Auch die Presse thut das Ihrige, wiewohl diese in letzterer Zeit, seit unter Palmerston die bureaukratischen Tendenzen mehr hervortraten, nicht selten abgewiesen ward, wenn sie der „Gerechtigkeit“ und dem ekelhaften Galgen einen armen Sünder streitig zu machen suchte. Seit dem Juli 1854 ist aber das Begnadigungsrecht der Krone eine Rechtsinstitution, ein gesetzlicher Akt, ein Privilegium in den Händen von Rechts- und Gefängnißbehörden, und dieses Begnadigungsrecht der Krone als eine Correctur des Gesetzes auf die Verwalter des Gesetzes selbst ausgedehnt worden. Man nennt diese damals angenommene Parlamentsakte in England das „ticket-of-leave-system,“ d. h. das System, verurtheilte Verbrecher durch Entlassungsscheine (tickets of leave) vor Ablauf ihrer Strafzeit wieder frei zu geben. Die so Entlassenen spielen seitdem in der socialen und kriminalistischen Sphäre Londons als „ticket-of-leave-men“ eine nicht unbedeutende Rolle. Wurden doch im vorigen Jahre allein nicht weniger als 4612 Verbrecher auf diese Weise begnadigt und entlassen. Das Gesetz beschränkt diese Begnadigung durch folgende Bedingungen: nur zur Transportation auf höchstens zehn Jahre verurtheilte Verbrecher sind der Entlassung vor Ablauf dieser Zeit fähig und werden deshalb gar nicht mehr transportirt. Die, welche zu längerer Transportation verurtheilt wurden, müssen nach wie vor in West-Australien, auf Bermuda oder in Gibraltar ihre Verbrechen büßen, wo sie freilich auch unter Umständen noch begnadigt werden. Die gar nicht mehr Transportirten müssen eine strenge Vorschule zu ihrer Entlassung durchmachen, da es von vorn herein gefährlich erschien, die etwa 5000 Verurtheilten, welche innerhalb der Parlamentsakte vom Juli 1854 fielen, auf einmal mit einem bedingten Entlassungsschein frei zu geben. Sie müssen deshalb zunächst im Muster-Gefängniß zu Pentonville (London) eine neunmonatliche strenge Einsamkeits- und Schweigsamkeitshaft durchmachen, so strenge, daß Niemand während der Zeit ein menschliches Angesicht zu sehen bekommt und kein Wort sprechen darf, wenn nicht einsam von einem Vorgesetzten gefragt und aufgefordert.

So oft die Gefangenen in der Kirche oder während der Stunde ihres Luftschöpfens in Berührung gebracht werden, trägt Jeder eine Maske und wandelt Jeder stumm inmitten stummer, unkenntlicher, geheimnißvoller Gestalten, unter denen nicht selten Freunde, Verwandte, Vater und Sohn, Bruder und Bruder ahnungslos neben einander schreiten oder sitzen. Jeder Gefangene muß hier ein Handwerk oder eine bestimmte Beschäftigung mechanischer Art erlernen. Von dem Ertrage dieser Art werden ihm je nach seinem Fleiße wöchentlich 4 bis 8 Pence (3 bis 7 Sgr.) gut geschrieben. Nach einsamer Durchschweigung dieser neun Monate wird er in den Regierungsdocks zu Woolwich oder Portsmouth beschäftigt, darf bei fortgesetzt gutem Betragen Briefe und Verwandte empfangen (aber blos einmal jeden zweiten Monat) und über die 3 Pence, die er wöchentlich erhält, verfügen. Hat er diese zweite Station glücklich und gut bestanden, wird er in die dritte erhoben mit 6 Pence wöchentlich, Thee statt Grütze zum Abendbrot und einem halben Nösel Bier zum Sonntagsessen. Die vierte Station bringt 9 Pence wöchentlich, Licht in die Zelle und einen neuen Streifen an der Jacke (die „Stationen“ werden durch solche „Streifen“, wie durch eine Art von Orden, öffentlich zur Schau getragen). Das gut geschriebene Geld wird im Ganzen nur den Entlassenen zur Verfügung gestellt, während der Strafzeit dürfen sie nur in ganz außerordentlich günstigen Fällen etwas verbrauchen. Es variirt von 5 bis 20 Pfund (30 bis 150 Thaler). Summen über 5 Pfund werden nur in bestimmten Terminen gezahlt, um der Versuchung, daß der Entlassene es auf einmal durchbringe, zu begegnen, wodurch freilich auch der Redlichwollende verhindert wird, mit einem kleinen Kapitale irgend ein selbstständiges Geschäft anzufangen. Außerdem hängen die spätern Zahlungen von dem Moralitätszeugniß des Geistlichen oder des Magistrats, wo sich der Entlassene aufhält, ab.

Die Moral des Entlassenen hängt wieder von der pharisäischen Moralität der Gesellschaft ab, in welche er mit dem Entlassungsschein, dem Kainsstempel für die Leute, welche beten: „Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute“ hinausgestoßen wird. Die Polizei läßt ihn nicht aus den Augen, die tugendhafte Gesellschaft nicht vor ihre Augen. Findet ja Jemand einen Arbeitgeber, macht ihm die Polizei sofort ihre Aufwartung, und warnt den Mann vor dem „ticket-of-leave-man“, der dann in der Regel auch eiligst entlassen wird. Der Staat hat den Entlassenen vorher erzogen und gebessert, ein paar Jahre an ihm gedoktert und ihm dann ein Zeugniß gegeben, daß er der geschenkten Freiheit würdig sei. Gleichwohl hetzt er die Polizei nach, welche sagen muß: es ist nicht wahr, der Mann ist nicht gebessert, er verdient kein Vertrauen. Dieser unsinnige Widerspruch wird durch die tugendhafte Gesellschaft noch schlimmer. Gewarnt von der Polizei vor dem Zögling der staatlichen Gefängnißbesserung, glaubt sie in um so größerem Rechte zu sein, sich in sittlicher Entrüstung vor einem solchen Entlassenen steif in die Höhe und zurückzuziehen und das Mißtrauen in den gefallenen Mitmenschen zu einer ehernen Mauer zu machen, die ihn für immer von der guten Gesellschaft ausschließt. Im Allgemeinen heißt es dann auch, dieses ticket-of-leave-system habe den Erwartungen nicht entsprochen. Die tugendhafte Oeffentlichkeit, die tugendhafte Presse, tugendhafte Geistliche und Magistrate, welche alles Mögliche gethan, um die in Gnade Entlassenen wieder unter die Verbrecher zurückzuhetzen, fühlen sich beleidigt, daß man nicht mehr Respekt vor ihrer Tugend und vor ihrem „Eigenthum“ gezeigt habe. Sie schreien fortwährend, daß, wer einmal ein Verbrechen begangen, sei und bleibe ein Verbrecher, und so fielen auch die frühzeitig Entlassenen immer wieder in ihr „altes Gewerbe“ zurück. So schreit die Tugend den Thatsachen in’s Gesicht. So halb die Maßregel auch war, war sie doch eine halbe Wendung zum Guten, zur höheren Gerechtigkeit gegen das Recht. So sehr sich Tugend, Moral und Polizei auch bemühten, die einmal Gefallenen, die von der Gesellschaft Verwahrlosten in ihre Verwahrlosung zurückzustoßen und von aller Ehre und Ehrlichkeit fern zu halten, stellte sich doch heraus, daß die Rückfälligkeit der Verbrecher im Allgemeinen 35 Procent betrage, unter den ticket-of-leave-men aber noch nicht zehn Procent.

Diese statistische Ermittelung läßt auf größere, heroischere Tugend unter den Verbrechern schließen, als unter den gewohnheitlich Tugendhaften. Es ist weit leichter, in guten Verhältnissen unter ordentlichen Leuten gut und ordentlich zu bleiben, als im Kampfe gegen die zurückstoßende ordentliche Gesellschaft aus dem Sumpfe der Verwahrlosung, der Noth und Entbehrung heraufzusteigen, und festen Fuß zu fassen gegen neue Versuchung. Wie schwer das ist, davon haben wir ordentlichen Leute kaum eine Ahnung. Wir müssen uns in ihre Lage und Umgebung, in ihr umnachtetes Innere hineinfühlen, um sie richtig und menschlich beurtheilen zu lernen; wir

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_216.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)