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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Hast Du nichts am Himmel gesehen?“ fragte er mich, und als ich dies verneinte, sagte er: „So lauf einmal nach der Wache und frage den Posten, ob er nichts gesehen.“

Ich lief hin, der Posten hatte aber nichts gesehen, welches ich meinem Herrn meldete, der noch eben so lag und den Himmel unverwandt beobachtete.

„Höre,“ sagte er dann zu mir, „wir sind in einem bedeutenden Moment, entweder wir haben in diesem Augenblicke ein Erdbeben oder wir bekommen eins.“

Und nun mußte ich mich zu ihm aufs Bett setzen, und er demonstrirte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.

Am nächsten Tage erzählte mein Herr seine Beobachtungen bei Hofe, wobei eine Dame ihrer Nachbarin in’s Ohr flüsterte:

„Höre, Goethe schwärmt!“

Der Herzog aber und die übrigen Männer glaubten an Goethe, und es wies sich auch bald aus, daß er recht gesehen; denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in derselben Nacht ein Theil von Messina durch ein Erdbeben zerstört worden.

In diesem Schlafzimmer starb auch Goethe am 22. März 1832 im 83. Jahre seines reichen herrlichen Lebens.




Als ich das Goethe-Haus verließ, waren es weniger die eben gesehenen Gegenstände als die mancherlei Bilder aus Goethe’s Leben, welche mich beschäftigten. Die wundersame persönliche Erscheinung des Dichters, die Art und Weise seines Verkehrs mit Menschen fast jedes Standes und Faches, und überhaupt die unvergleichliche Menge seiner in diesem Hause entstandenen Schöpfungen und wissenschaftlichen Arbeiten sind auch wohl geeignet, unsere Vorstellungen ganz einzunehmen. Dreiunddreißig Jahre war der geniale Mann alt, da er das eben geschilderte Haus bezog, und im dreiundachtzigsten Jahre seines Lebens starb er darin. Rechnet man auch die vielen und andauernden Reisen nach Italien, in die Schweiz und in die verschiedenen Bäder, sowie die häufigen Aufenthalte in Jena, Ilmenau u. s. w. ab, so bleibt doch noch ein hübsches Menschenalter übrig, welches der große Dichter ständig in diesem Hause zugebracht hat. Und in welchen mannigfaltigen Gestalten, trotzdem er stets derselbe blieb, erschien er nicht im Laufe einer solchen Zeit! Anfangs noch manchmal vom Dämon seiner Jugend ergriffen, gewaltig dahinbrausend; nach und nach von Maß und Form beherrschte ruhig, gelassen, strenge und milde zugleich, aber selbst innerhalb dieser allgemeinen Umrisse seiner Erscheinung wieder oft und oft ein Anderer! Was geben nur die Tagebücher und Aufzeichnungen seiner Lieben und Vertrauten selbst in seinem hohen Alter noch für Metamorphosen seiner Erscheinung! Heute empfängt er z. B. seinen Eckermann im blauen Oberrocke und in Schuhen, eine erhabene Gestalt; das Gesicht ist kräftig und braun, voller Falten, in Allem zeigt sich Biederkeit und Festigkeit, Ruhe und Größe – Goethe spricht langsam und bequem, wie man sich einen bejahrten Monarchen denkt; – morgen ist er ganz ein Anderer, in allen Dingen rasch und entschieden wie ein Jüngling. Ein andermal ist großer Thee beim alten Herrn; alle Zimmer flammen von hellen Lichtern, und eine zahlreiche auserwählte Versammlung von Gästen bewegt sich durch die Räume: da erscheint er wieder – auf dem schwarzen Anzug der Stern, „welcher ihn so wohl kleidet“ und ist sehr heiter. Nun aber sitzt er gleich des andern Tages wieder als behäbiger Familienvater am Mittagstische, tranchirt Geflügel mit Geschick und schenkt dabei gelegentlich seinen Gästen ein. Man könnte sagen, daß Goethe’s äußere Erscheinung, so sehr sie im Ganzen dieselbe blieb, doch immer die vorwiegend charakteristische Farbe von dem Geiste erhielt, der ihn eben besonders beherrschte. Denn ich glaube nicht zu irren, daß der schöpferische Dichter in ihm das erste Wort führte, wenn er eines Abends sehr aufgeweckten Geistes gefunden wird, seine Augen im Widerschein des Lichten funkeln, sein ganzer Ausdruck Heiterkeit, Kraft und Jugend bezeugt; – daß ein andermal die schwer gebändigte Thatkraft eines Helden in ihm die Vorhand hat, wenn er von Napoleon I. mit Begeisterung spricht, und dröhnenden Schrittes hin und wieder schreitet; – daß er endlich gewiß vorwiegend den trockenen mathematischen Gesetzen der Natur nachsinnt, wenn er dasitzt: ruhig, klar, gemessen, alle Dinge, die zur Sprache kommen, mit den wenigsten und besten Worten scharf bezeichnend. Selbst sein Herz hat noch in seinem hohen Alter ein gewisses Recht auf seine äußere Erscheinung, und so wird er eines Abends an seinem Arbeitstische gefunden „in wunderbar sanfter Stimmung, wie Einer, der von himmlischem Frieden ganz erfüllt ist, oder wie Einer, der an ein süßes Glück denkt;“ – freilich, hatte er doch kurz zuvor sein liebliches Abenteuer im böhmischen Bade erlebt, in dessen Folge sein neuestes liebstes Gedicht: „Elegie von Marienbad,“ erstanden war.

Zunächst neben der großen Persönlichkeit Goethe’s erfaßte mich der Gedanke an die unübersehbare Menge von wissenschaftlichen und Kunstgegenständen, welche, wie aus den verschiedenen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen hervorgeht, in den Räumen des Goethe-Hauses stets zur Verhandlung kamen. Wie merkwürdig mußte es dieser Mann verstehen, alle angeregten Gegenstände beim innersten Wesen zu erfassen und in der mündlichen Verhandlung prächtig durchschaulich zu machen, wenn heute ein Staatsrath, morgen ein Naturforscher, übermorgen ein Philologe oder Maler, ein Architekt oder Dichter von Bedeutung erscheint: „um sich an diesem außerordentlichen Geiste auch einmal zu erquicken!“ Es kommt mir immer vor, als hätte seiner Zeit in keinem Fache, bei keinem Volke, weder im öffentlichen Leben noch in den Hallen der Kunst und Wissenschaft etwas Bedeutsames vorgehen können, davon er nicht gewußt und das er nicht in seiner Weise rasch verarbeitet hätte. Den Sternen am Himmel, den Bildungen der Wolken, der Metamorphose der Pflanzen, den Krystallisationsprozessen und Evolutionen im Innern der Erde ging er mit denselben Fleiße nach als er die Gesetze der Farben suchte und die Anlagen von Menschen und Thieren in ihrer innersten Natur ergriff. Mit Erstaunen hört man ihn heute die Charakteristik der Engländer entwerfen, und gleich darauf über Abdrücke antiker Gemmen sprechen; morgen entwickelt er die reifsten Gedanken über die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes, und erweist sich vollkommen zu Hause in den Fortschritten des griechischen Freiheitskampfes; ein andermal geht er belehrend eine Mappe von Zeichnungen durch und erhebt am Schlusse das ruhige Jupiterhaupt, um, an eine Bemerkung anknüpfend, ebenso harmlos und klar seine treffenden Gedanken über Volkslieder, römische Geschichte, deutsche Philosophie auf’s Bündigste herauszusagen. Im Laufe weniger Wochen hat der merkwürdige Geist belehrend und anregend den Erdkreis durchmessen, die Landenge von Suez durchstochen, den Rhein mit der Donau verbunden, seine Gedanken über Popularität von Schriftstellern und Regenten entwickelt und in herrlicher Reihe Namen, wie: Homer, Sophokles, Shakespeare und Schiller; Newton, Herschel und Alexander von Humboldt; Friedrich den Großen, Napoleon und Blücher; Plato, Kant, Hegel und Fichte; Raphael, Michel Angelo, Claude Lorrain u. s. w., nach Anlagen und Leistungen durchaus kennzeichnet. Es ist wahrhaft überwältigend, daneben den Mann in eigenen Forschungen und poetischen Schöpfungen immer selber frisch vorwärts schreiten zu sehen! Man kann hier nur ebenfalls sagen, was Goethe von Schiller sagte: „Das war ein Mann, so sollte man auch sein!“

–b.




Eine Verbrecherversammlung.

„Es erben sich Gesetze und Rechte wie eine ewige Krankheit fort,“ sagt Goethe mit dem inhaltschwer die Erben anklagenden Zusatze: „Weh’ Dir, daß Du ein Enkel bist!“ Wir fühlen es in jedem civilisirten Land, daß die im Wesentlichen alle aus frühern Jahrhunderten, von längst untergegangenen Nationen vererbten Gesetze, wie z. B. das römische Recht in Deutschlands Gesetzbüchern, mit unsern Rechtsbedürfnissen, mit unsern humanen Ansichten, mit unserer bessern physiologischen Erkenntniß der menschlichen Natur zum Theil im entsetzlichsten Widerspruche stehen. Auch die neuere und neueste Gesetzgebung hat oft mit dem, was der gesunde, parteilose, gebildete Mensch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_215.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)