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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Nein, liebe Madame, ich habe ihn im Leben nur ein einziges Mal gesehen, und zwar vor ungefähr einer Stunde. Wäre er jung und schön gewesen, ich würde es nicht gewagt haben, seinen Auftrag anzunehmen; aber er war ein alter Mann mit eisgrauem Haar, der so ehrwürdig aussah, daß ich ihm alles Gute zutraue.“

„Gleichviel; geben Sie ihm den Brief zurück!“

„Das wird unmöglich sein, meine liebe Madame.“

„Warum?“

„Weil ich nicht weiß, wo ich den alten Mann antreffen soll. Als ich ihn fragte, was wird, wenn Madame Soltau den Brief nicht annimmt? Was wird, wenn ich von Ihnen meinen Botenlohn erhalten muß? Da antwortete er: ich habe nicht Zeit, Eure Rückkehr zu erwarten, Kochelorum aber zeigt nur Madame Soltau die Aufschrift, und sie wird Euch gern einen Louisd’or geben.“

Das Judenweib trat näher und streckte den Arm wieder aus.

Die junge Frau konnte sich nicht enthalten, einen Blick auf die Adresse zu werfen. Da zuckte sie plötzlich zusammen, riß der Alten den Brief aus der Hand, und starrte die scharfen Schriftzüge an. Dann zerbrach sie hastig das Siegel und überflog die Zeilen. Wie bestürzt legte sie das Papier auf den Schreibtisch, ergriff ihre Börse, holte ein Goldstück heraus, und gab es der Jüdin.

„Der Mann mit eisgrauem Haare hat Recht, sagte sie in gewaltsamer Fassung; hier ist der Botenlohn, den er Ihnen versprochen. Sollten Sie ihn zufällig wiedersehen, so sagen Sie ihm, ich würde meinen Mann von dem in Kenntniß setzen, was mir sein lange erwarteter Brief mittheilt.“

„O ich wußte es wohl,“ rief froh das Judenweib; „ein so alter, würdiger Mann konnte sich keinen Spaß mit mir erlauben. Gott grüße Sie, liebe Madame Soltau! Werde Ihren Auftrag ausrichten, wenn ich den Mann wiedersehe!“

Das Goldstück betrachtend, verließ die Alte das Zimmer.

Kaum hatte sie sich entfernt, als Henriette die Thür schloß, den Brief wieder ergriff und zu lesen begann. In ihrem schönen Gesichte malten sich zuerst Bestürzung, dann Ueberraschung und endlich ein wehmüthiger Schmerz – sie brach in Thränen aus. Drei, vier Mal las sie den Brief, dann verbrannte sie ihn über der Flamme eines Wachsstocks, den sie mit bebender Hand angezündet, und warf die Asche durch das offene Fenster, daß der Wind sie zerstreute. Nachdem sie einige Minuten auf und abgegangen, um sich zu sammeln, erschloß sie die Thür wieder und setzte sich ruhig an ihren Stickrahmen. Als Soltau eine Stunde später eintrat, zeigte ihr schönes Gesicht keine Spur mehr von der heftigen Gemüthsbewegung.

V.
Auf dem Balle.

Es war im November, in der Zeit, wo Hamburg in Regen und Nebel eingehüllt ist. Soltau hatte unerhörtes Glück in allen seinen Unternehmungen gehabt; es schien, als ob ein besonderer Schutzgeist über seinem Bankhause wachte. Die sich immer noch häufenden Geschäfte hatten eine Vermehrung des Comptoirpersonals nöthig gemacht: statt drei Commis sah man jetzt neun an eleganten Bureaux arbeiten. Ludwig Lambert, der seit dem ersten Tage des Bestehens der Firma dem Hause angehörte, nahm die geachtetste Stellung ein, ihn, und dem alten Kassirer Lorenz überließ Soltau die Leitung des Comptoirs, wenn ihn die großen Unternehmungen in andere Kreise zogen. Die Zeit des schnell reich gewordenen Banquiers war dergestalt in Anspruch genommen, daß nothwendig eine Aenderung in dem häuslichen Leben der beiden Gatten vorgehen mußte. Soltau sah seine Gattin nur des Mittags bei Tische und selten des Abends, denn er war gezwungen, die Cirkel seiner zahlreichen Geschäftsfreunde zu besuchen, die ihn mit Einladungen bestürmten. Henriette war intelligent genug, um die Nothwendigkeit dieser Veränderung einzusehen; sie zürnte deshalb nicht, sie schien vielmehr ihre Zärtlichkeiten zu verdoppeln, um einen Ersatz für die Beschränkung der Zeit zu haben.

Franz wiederholte ihr fast täglich: „Ich arbeite nur für Dich, Henriette, damit Du wie eine Fürstin geehrt werdest.“

„Ehrt man Deine Frau nicht schon genug?“ fragte sie einst. „Bedürfen wir noch mehr des Reichthums, um in unserer Liebe glücklich zu sein?“

„Ich habe mir vorgenommen, Dein Vermögen zu verzehnfachen,“ antwortete er. „Gönne mir den Stolz, einige Jahre an der Börse geherrscht zu haben.“

Das Glück, das Soltau in dem Besitze seiner reizenden Gattin fand, war seit der Zeit der Verheirathung nur ein einziges Mal getrübt worden: ein neidischer Speculant hatte in gewissen Kreisen das Gerücht verbreitet, Soltau verdanke sein Vermögen nicht seinem Geschäftsfleiße, sondern seiner schönen Frau, und diese habe es durch hohe Protektion theuer erkauft. Franz hatte diese Verleumdung dadurch gerächt, daß er den verleumderischen Speculanten mittelst eines geschickten Börsenmanövers zum Fallissement gezwungen. Der Banquier besaß den richtigen Takt, diese Angelegenheit und ihre Folgen, die das eheliche Glück würde getrübt haben, seiner Frau zu verschweigen; dafür suchte er aber als Banquier zu glänzen und seinem Ehrgeize durch große Unternehmungen zu genügen. Franz betete seine Frau an, und liebte seine kaufmännische Ehre.

Ein großer Schiffsrheder, der durch den Transport von Auswanderern ein enormes Vermögen erworben hatte, gab um diese Zeit einen Ball. Franz und Henriette waren dazu geladen. Der Schiffsrheder bewohnte eins jener palastähnlichen Häuser, die nach dem großen Brande entstanden sind. Seine Säle waren mit seidenen Tapeten und Gold verziert; der Ball sollte sie den Gästen bei glänzender Beleuchtung zeigen.

Um neun Uhr erschien der Banquier mit seiner Gattin. Man beneidete das schöne, glückliche Paar. Henriette war in weiße Seide gekleidet; ein kostbarer Diamantschmuck erglänzte an ihrem Alabasterhalse, und eine einfache rothe Rose schmückte das volle braune Haar. Auch Franz hatte eine reiche elegante Toilette gemacht, denn er war noch Liebhaber und wollte seiner Frau gefallen. Beide hatten sich nicht für die Welt, sie hatten sich nur für sich selbst geschmückt.

Während Franz eifrig von den Männern begrüßt ward, führte die Frau vom Hause, eine schon bejahrte Dame, die strahlende Henriette zu einem Kreise junger Frauen und Mädchen. Die Musik begann, und die Tänzer erschienen, um die harrenden Tänzerinnen zu engagiren. Selbst die Hausfrau ward von einem Schiffskapitain in die Reihe gezogen.

Da trat ein junger Mann zu Henrietten, und bat um ihre Hand zum Tanze.

„Ich tanze nie, mein Herr,“ antwortete artig die junge Frau; „es sei denn, daß mein Mann mich zu einem langsamen Walzer führt, der keine anstrengende Bewegung erfordert. Mehr als einen Tanz hat mir der Arzt nicht erlaubt, und ich glaube, daß ich Sie nicht kränke, wenn ich zu diesem einen Tanze meinem Mann die Hand reiche.“

„Ah, Madame ist verheirathet!“ sagte pikirt der Tänzer.

„Und doch versicherte man mir neulich das Gegentheil.“

„So hat man sich über meine Person getäuscht, oder man hat Ihnen absichtlich eine Unwahrheit gesagt.“

Henriette sah den blonden Modemann erstaunt an.

„Sie erinnern sich wohl meiner nicht mehr?“ fragte er mit einem impertinenten Lächeln.

„Ich wüßte nicht, daß ich Sie schon früher gesehen hätte.“

„Sie waren vorgestern Abends acht Uhr in einem Hause der Polstraße. An meiner Hand erstiegen Sie die Treppen zum vierten Stocke. Als Sie eine Stunde später zurückkehrten, fanden Sie mich an der Thür, und ich hatte das Vergnügen, einen Fiaker für Sie herbeizurufen. War Ihr schönes Gesicht auch in einen schwarzen Regenhut gehüllt, so habe ich mir die Züge desselben doch so tief eingeprägt, daß ich sie selbst unter dem Diademe einer Königin wiedererkennen würde.“

Entrüstet erhob sich Henriette; mit stolzen, verachtenden Blicken sah sie den jungen Mann an.

„Ich wiederhole noch einmal, daß Sie sich täuschen, wenn Sie nicht die Absicht haben, mich zu beleidigen.“

„Verzeihung, Madame, dann würde ein kostbarer Diamantring, der sich beim Einsteigen in den Wagen von dem zarten Finger der Dame streifte, in meinen Händen bleiben müssen. Ich glaubte schon so glücklich zu sein, die Gelegenheit gefunden zu haben, das werthvolle Kleinod der Eigenthümerin zurückzustellen.“

Henriette zuckte leicht zusammen; sie fächelte sich mit ihrem Fächer Luft zu, um eine schnell aufsteigende Röthe zu verbergen. In diesem Augenblicke erhob sich ein Gast, der gedankenvoll auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_210.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)