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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 16. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Ein Familiengeheimniß.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)

Nach einer halben Stunde trat Lambert in’s Comptoir. Soltau war nach der Börse gegangen.

„Herr Lambert,“ sagte der alte Kassirer Lorenz, „Madame Soltau will Sie sprechen.“

„Mich?“ fragte verwundert der Commis.

„Sie hat Auftrag gegeben, Sie sogleich zu ihr zu schicken, sobald Sie zurückkämen.“

Gehorsam ließ sich der Commis bei der Gattin seinen Chefs melden. Er ward sogleich vorgelassen. Henriette, in einer reizenden Toilette, trat ihm lächelnd entgegen.

„Mein Mann hat Sie dem jungen Mädchen nachgeschickt, das diesen Morgen in unserm Comptoir war?“ fragte sie.

Der arme Commis gerieth in eine peinliche Verlegenheit; er war der Meinung, die eifersüchtige Gattin suche ihn auszuforschen.

Der Gedanke, er könne den Samen eines unglücklichen Zerwürfnisses zwischen die beiden Gatten säen, aber auch der Gedanke daran, daß Soltau die Eifersucht seiner Frau auf Kosten der Ehre Sophie’s rege gemacht, ließ ihn zittern. Die Inquisition kam ihm so unerwartet, daß er außer Stande war, zu antworten.

Henriette begriff die Verlegenheit den jungen Mannes.

„Indem Sie den Auftrag Ihres Prinzipals ausführten, sind Sie dem meinigen nachgekommen,“ fuhr sie fort. „Sophie Saller interessirt mich, und deshalb möchte ich ihre Wohnung kennen lernen. Mein Mann kommt heute spät nach Hause – er hat mir aufgetragen, Ihre Nachricht in Empfang zu nehmen.“

Die Worte der Herrin vom Hause durfte er nicht bezweifeln.

„Madame, ich bedauere, Ihnen melden zu müssen, daß meine Bemühungen fruchtlos gewesen sind. Das junge Mädchen verschwand mir in dem Gewühle, und ich habe es, trotz aller Anstrengungen, nicht wieder erblicken können. Ich glaube die Bemerkung gemacht zu haben, daß Sophie Saller unerkannt bleiben will.“

„Wo kam sie Ihnen aus den Augen?“

Der Commis, der in seinem Rechte zu sein glaubte, nahm keinen Anstand, die Lüge auszusprechen:

„In dem Menschengedränge in der Bergstraße. Sie muß dort in ein Haus geschlüpft sein.“

Die junge Frau dankte und entließ den Commis, der nun an sein Bureau zurückkehrte, um noch eine Stunde zu arbeiten.

„Das ist seltsam!“ flüsterte Henriette. „Ich muß klar sehen in der Sache, und möge es kosten, was es wolle.“

In diesem Augenblicke trat die Kammerfrau ein.

„Was giebt es?“

„Draußen steht eine alte Frau, die Madame Soltau zu sprechen verlangt.“

„Vielleicht eine Bettlerin?“ fragte Henriette, indem sie nach ihrer Börse griff.

„Ihre schlechte Kleidung spricht dafür; aber sie dringt beharrlich darauf, mit Ihnen zu sprechen.“

Es war nicht das erste Mal, daß arme Leute in großer Bedrängniß sich an die Gattin des reichen Banquiers, die als wohlthätig bekannt war, wandten. Henriette linderte gern die Noth Anderer.

„Führen Sie die Frau zu mir!“

Die Kammerfrau entfernte sich, um nach einigen Augenblicken eine alte Frau eintreten zu lassen, deren gelbes Gesicht, gebogene Nase, schwarzes Haar und unsaubere Kleidung die hamburger Jüdin vom reinsten Wasser verriethen. Ihr widrig-freundliches Lächeln zeigte einen fast zahnlosen Mund. Ihren Kleidern entströmte der eigenthümliche Duft, den man nur in den Wohnungen der gemeinen Handelsjuden findet.

„Madame Soltau wollte ich sprechen!“ sagte die Jüdin.

Henriette trat unwillkürlich zurück vor der widerlichen Gestalt.

„Ich habe Sie eintreten lassen, um Sie anzuhören, liebe Frau!“

„Aber ich bin gekommen, um allein mit Madame Soltau zu sprechen.“

Auf einen Wink der Herrin, die den lästigen Besuch so rasch als möglich abfertigen wollte, entfernte sich die Kammerfrau.

„Liebe Madame,“ begann die Jüdin, „ich möchte ein Geschäftchen mit Ihnen abschließen. Wir sind doch ganz allein?“

„Ganz allein!“ antwortete die verwunderte Henriette.

„Vor einer Stunde kam ein alter Mann zu mir und sagte: Kochelorum, wollt Ihr ein Händelchen machen? Warum nicht, ich lebe von Handelchens! – Da gab er mir diesen Brief – die Alte holte ein Papier unter ihrem schmutzigen Umschlagetuche hervor – und sagte: gebt diesen Brief in die Hände Madame Soltau’s, ohne daß es ein Mensch sieht, und Madame Soltau wird Euch einen Louisd’or dafür zahlen. – Ich dachte, die Mühe ist gering, es kommt auf den Versuch an. Hier ist der Brief, liebe Madame!“

Die Alte streckte grinsend die gelbe, fleischige Hand mit dem Papiere aus.

Die erschreckte Henriette trat zurück.

„Kennen Sie den Mann, der die Kühnheit hat, Sie zu mir zu schicken?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_209.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)