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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

mindestens schon ihre 25 Millionen Jahre um die Sonne herum marschirt ist, viel näher kommt. Alle Brahminen und Seher, deren Schriften auf Zeiten bis 12,000 Jahre vor Christi Geburt zurückführen, geben der von Menschen bewohnten Erde eine Zeit von 15 Millionen Jahren, die sie in 4 Perioden eintheilen. Die erste, das goldene Zeitalter, dauerte 1,728,000 Jahre. In dieser Zeit wurde Gott Brahma geboren, und die Menschen, alle von doppelter Goliathsgröße, wurden durchschnittlich 400 Jahre alt. Die zweite Periode dauerte 1,296,000 Jahre, während welcher die Rajah’s und verschiedene Laster geboren und von Menschen erzogen und gepflegt wurden, so daß sie es durchschnittlich nur noch bis auf 300 Jahre brachten. Die dritte Periode von 8,064,000jähriger Dauer brachte das Laster mehr zur Herrschaft und Größe und Tugend der Menschen, die nur noch 200 Jahre lebten, mehr in Verfall. Die letzte Periode, in der wir leben und von welcher schon 4,027,280 Jahre verflossen sind (wie wenigstens die Schüler der alten Brahma-Weisen behaupten) hat die Menschen durch Laster bis auf ein Viertel ihrer ehemaligen Größe und ihrer ursprünglichen Lebenszeit zurückgedrängt.

Der Berg Ararat.

Auf dem Berge Ararat erscheinen uns diese kolossalen indischen Perioden menschlicher und wahrscheinlicher, als unsere engherzigen Sagen, die wir von den alten Juden angenommen haben, da wir keine eigenen geltend machen konnten. Alles erscheint von hier aus dem nach keiner Seite eingeengten Blicke unendlich, und die ganze orientalische Frage mit ihren fünf Punkten unter dem Fragezeichen kaum als Fliegenkleckserei. Liegen doch hier seit Noah, selbst nach Calvisius, der in unsern Volkskalendern noch jedes Jahr genau angiebt, wie lange es her sei seit Erschaffung der Welt, wenigstens fünfzig Völker und Reiche begraben. Sie alle blühten neben und über einander empor, strahlten und thronten über die Erde und starben. Der nackte Araratgipfel sah ruhig zu, wie eins nach dem andern emporblühte um seinen Fuß herum, und sich ausbreitete, als wollt’ es die ganze Welt erobern, und wie es spurlos verschwand, ehe ihm, der nur von geologischen Jahren berührt wird, ein einziger Tag dahingegangen war. Er sah auch auf die blutigen Scenen, Donner- und Dampfwolken, die der Krieg neuerdings bis nach seinem erhabenen Haupte emporzuwirbeln suchte, unbewölkt und ungerührt herab, und um die Friedens-Konferenzen in Paris läßt er sich schon deshalb keine grauen Haare wachsen, weil er in seiner Jugend im Gram über das blutige Entstehen und Vergehen von Staaten um ihn her bereits ganz kahlköpfig geworden. Wollte er sich jetzt noch über die Diplomatie bekümmern, würden ihm allein durch den Fall von Kars alle Haare ausgefallen sein.

Nein, hier oben sind wir frei von den kleinlichen Listen und Ränken und Grausamkeiten der Civilisation und Barbarei, zwischen denen von einem so hohen Standpunkte aus gar kein Unterschied ist. Hier oben sieht man nur noch die Physiognomie der Erdoberfläche und deren Schönheitspflästerchen von Städten und Dörfern im Allgemeinen und in Totaleindrücken, nordöstlich die große Kette des Kaukasus, aus welchem sich sichtbar der Arax hervorschlängelt, die russisch-persische Grenze mit der Festung Erivan nordwestlich Gumri und Kars, ringsum Gebirgs- und Hügelwellen bald kahl, bald dicht bewaldet und überblüht, aber durchweg menschen- und kulturöde, nur daß uns das Fernrohr nach unten zuweilen einen vergoldeten, mit blauseidenen Vorhängen beschatteten, von Ochsen langsam über Stock und Stein gerumpelten Wagen zeigt, in welchem ein Stückchen Harem irgend eines blauen, weißbeturbanten Alttürken frische Luft zu schöpfen sucht.

Wir blicken noch einmal nach der russisch-persischen Grenze, wo der Gipfel des Zengui mit einem Festungsschlosse auf seiner Spitze einen um so anziehenderen Haltpunkt für das Auge bietet, als sich unten die russische Grenzfestung Erivan, alte Hauptstadt Georgiens, malerisch herumlagert. Inwendig bilden die schönsten Mädchen, die kostbarsten Perlen für türkische Harems, in ihrem eigenen und der Straßen Schmutze die pikantesten Contraste. Die Mädchen träumen von der großen Wäsche, der sie unterworfen werden, ehe sie auf den Markt kommen, und von dem Markte, auf dem sie verkauft werden, eben so süß und schwärmerisch, wie unsere holdesten Jungfrauen vom goldenen Ringe und der Haube,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_204.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)