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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Domkuppel empor, und zwischen den Palastreihen breitete sich eine ruhige Wasserfläche aus, auf welcher alle die Eiswunder sich abspiegelten. Todtenstille herrschte in dieser Stadt, und diese Einsamkeit verlieh der Scene ein beängstigendes Grauen. Immer erwartete man, einen Menschenlaut, das Rauschen einer Gondel, das Knarren eines Thores zu vernehmen, aber starr und regungslos blieben Kanal und Paläste. Nur Seevögel schwammen zuweilen geräuschlos in den öden Wasserstraßen, an freieren Stellen sah man die Springquellen der Wallfische im Sonnenschein schimmern, und hörte den zerfließenden Nachhall seines dumpfen Brausens.

Hatte man diese wunderbare schwimmende Eisstadt hinter sich, so sah man sich in eine andere Welt versetzt. Ringsum breiteten sich Ebenen aus, auf denen hier ein beschneites Gebüsch, dort ein halb zerstörter Garten und daneben die niedrigen Dächer eines Dorfes standen. Sie schienen halb verschüttet von wehendem Schnee, aber Dach und Wand, Schornstein und Kirchthurm, Tannenbäume und niedriges Strauchwerk waren so täuschend nachgeahmt, daß man nur mit Mühe sich überzeugen konnte, jene Landschaft bestehe aus Eisgebilden. Wie strahlte alles so verklärt und so hell im Sonnenschein, wie blitzten die Eiszacken am Strohdach und an dem Mühlrad, wie schimmerten die Schneeflocken auf den Bäumen, und doch wie grauenhaft war die Ausgestorbenheit und lautlose Einsamkeit dieses Dorfes.

Noch immer ging die Fahrt gen Nordosten an einer wunderbaren Eiswand hin, der man 200 Meilen weit folgte. Immer neuer Wechsel der Gruppen und Gestalten, und doch immer wieder dieselbe Einöde, dasselbe furchtbare Schweigen. Dazwischen erschienen auch Gruppen wild zerstörter, von Sonne und Nebel zu phantastischen Gestalten zernagter Eisklumpen. Still und feierlich zogen diese zersplitterten und zackigen Eistrümmer vorüber, die in der kurzen Dämmerung der langen Sommertage wie dunkle Traumgestalten erschienen und verschwanden.

Die Eiswände waren zum großen Theil weggeschmolzen oder zertrümmert, tiefe Löcher waren hinein gethaut, und während um den tief im Wasser gehenden Fuß des Meeres kräuselnde Wellen spielten, ächzte und stöhnte die morsche Masse der oberen Hälfte, die oft beim Zusammenstoß in tausend Splitter zersprang, verwegene Matrosen wagten sich aus dem Boot in die schmalen Wasserstraßen, die zwischen den ungeordneten Haufen der Eisblöcke offen lagen, um ihre phantastischen Bildungen näher zu betrachten.

So unterhaltend auch anfangs die Betrachtung dieser Eisgestalten war, so ermüdete doch die Einförmigkeit und der blendende Glanz, und die Mannschaft war hoch erfreut, als sie an den Neu-Südorkneys endlich wieder Land sah. Zwar waren es nur schwarze Felswände, von denen die Eishülle herabgestürzt war, aber man sah ja wieder Land und festen Boden. Unterhaltung gewährte hier, wie an manchen Eisblöcken, die Menge der unbeholfenen Pinguine, welche auf dem First der Felsen und an deren Abhängen zu Tausenden in Reihe und Glied neben einander saßen, und die seltene Erscheinung eines Schiffes mit heiserem Geschrei begrüßten. Dabei waren sie so wenig scheu, daß sie den landenden Matrosen keineswegs Platz machten, die vielmehr einen Vogel nach dem andern herab werfen mußten, wogegen alle mit großem Geschrei protestirten. Andere dieser schwerfälligen Thiere tummelten sich auf dem Wasser, schwammen pfeilschnell hin und her, tauchten und erschienen erst in weiter Entfernung wieder, schüttelten die Köpfe, glotzten die Schiffe an und versuchten dann zu landen. Da sie kurze Füße haben, die dazu noch sehr weit hinten am Körper stehen, so taumelten sie oft nieder, glitten aus und sanken in’s Meer zurück, bis sie endlich mit Hülfe des Schnabels und der kurzen Flügelstumpfe, die ihnen als Stützen dienten, sich auf’s Land schoben und dort mit langgestreckten Hälsen das Schiff anschrien. Durch die Luft zogen zahllose Sturmvögel, Kaptauben, Scharben und weißflügelige Möven, auf Eisschollen lagerten theilnahmlos Seehunde und starrten Schiff und Menschen an, dem Kielwasser folgten 15 bis 20 Fuß lange Delphine, und auf freien Wasserstellen tummelten sich Wallfische.

Bald sollten die Seefahrer aber auch die Schrecken dieser Gegenden kennen lernen. Denn die schwimmenden Eisberge traten immer dichter zusammen, mächtige Schollen schwammen unter der Oberfläche des Wassers und stießen mit solcher Gewalt an das Schiff, daß es zitterte, krachte und dröhnte, und nur durch seinen starken Bau befähigt war, den wiederholten Stößen Widerstand zu leisten. Plötzlich sah man sich in einem ungeheuren Becken, wie in einer Bucht rings von Eis eingeschlossen, und lief dabei Gefahr, von den hin- und wiedertreibenden Eisbergen zermalmt zu werden, weshalb der Kapitain die Vorsicht gebrauchte, des Nachts sein Schiff mit Ankern und Tauen dicht an einen Eisberg anzulegen, damit er es schütze. Wohl an 200 Fuß ragten die Kolosse aus der Fluth; ihre Wände waren durchfurcht von den Rinnen des Regen- und Thauwassers, welches am Tage in hellen Wasserfällen niederplätscherte, wogegen der Fuß auf einem Gestell regelmäßiger Eisplatten ruhte. Fern von menschlicher Hülfe schwamm das Schiff, an einen Gletscher angebunden, auf unbekanntem Meere Tage lang umher, oft umhüllt von Schneegestöber und umdonnert von zusammenstoßenden Eisbergen.

Da faßte der Kapitain endlich den verzweifelten Entschluß, sich mit Gewalt durch den drei Meilen breiten Eisring Bahn zu brechen, der ihn in der Bucht eingeschlossen hielt. Man spannte die Segel auf und rannte mit der scharfen Kante des vorderen Schifftheils in das Eis hinein. Es kreischte, splitterte und brach, so daß die Schiffe etliche hundert Fuß wie Sturmböcke eindrangen, dann aber unbeweglich im Eis lagen. Grauen befiel die Mannschaft, als sie die weite Strecke Eis übersah, die sie noch durchbrechen sollte. Zwar waren Alle frisch bei der Hand, schafften kleine Eisstücke weg, befestigten an die großen Blöcke starke Taue, an denen die Matrosen an Bord zogen, um das Schiff tiefer in den Eisring hineinzutreiben, aber bei aller Anstrengung rückte man nur einige Fuß vor. Dazu kam noch, daß der Wind umsprang, hohe Brandung an der Eiswand aufwarf und das Schiff zu zerquetschen drohte, weshalb man sich unter großen Mühen wieder in die Bucht zurückzog, um hier zu warten, was das Schicksal über Mannschaft und Schiff verhängen würde. Tag bei Tag verging, und schon begannen die Matrosen an ihrer Rettung zu verzagen, als der Himmel sich der braven Männer erbarmte. Der Wind sprang um, die hohe See brach mit Ungestüm gegen den Eisring heran, mächtige Wellen hoben und rückten an der Eisdecke, daß sie erbebte und krachte, und die beiden Schiffe wiederholten die Versuche, das Eis von der Bucht aus zu durchbrechen. Mit Macht rannten sie gegen dasselbe, daß die Schollen splitterten, kehrten zurück, um zu neuem Anlauf auszuholen, und arbeiteten sich auf diese Weise so tief in die Eisbank hinein, daß man drüben das offene Meer erblicken konnte. Nun wurden alle Segel ausgespannt und das Schiff von Neuem gegen dan Eis getrieben. Krachend prallten sie an, drangen ein und standen dann festgekeilt, während die Masten ächzten, die Segelstangen kreischten, und die Matrosen mit Aexten und Brecheisen dem Schiffe Raum zu schaffen suchten. Bald legte es sich unter dem Druck der gefüllten Segel auf die Seite, bald stieg der Vordertheil hoch empor, und dazwischen stöhnten die Schiffsplanken, knarrten die Maste und knirschten die Schollen. Die Besorgniß der Matrosen steigerte sich, sie verdoppelten ihre Anstrengungen, und diesen wie der Kraft des Windes gelang es endlich, die Eisschranke vollends zu durchbrechen und wieder in’s offene Meer zu gelangen.

Doch sollte die Mannschaft noch eine furchtbare Scene erleben. Die Matrosen pflegten, als das Schiff in der Bucht lag, oft in Booten nach Seehunden und Vögeln auf die Jagd zu gehen, während Andere, als das Schiff sich in das Eis einbohrte, fröhlich auf den Schollen umhersprangen und sich belustigten. Sobald das vordere Schiff die Eisbank ziemlich durchbrochen hatte, rief das Kommando: „Alle an Bord!“ die Mannschaft zusammen. Alle erschienen, nur der Kalfaterer war zu weit entfernt, um zur rechten Zeit einzutreffen. Das Schiff ging ab, als der Unglückliche noch athemlos über die Schollen heraneilte. Er lief, er sprang, stürzte und war im Nu wieder auf den Beinen; aber hatte er den Eisrand bald erreicht, so hielt ihn eine breite Spalte auf, die er umgehen mußte, so daß er wieder weit zurückblieb. Mit Entsetzen sahen die Matrosen ihren Kameraden über das Eis laufen, sahen seine Gefahr, auf ihm zurückbleiben zu müssen, und konnten ihm doch nicht helfen. Er rief, winkte und lief, starr nach dem davon segelnden Schiffe blickend, aber er schien verloren. Todesangst erfaßte ihn, Angstschweiß drang aus allen Poren, ihm flirrte es vor den Augen, er lief nicht mehr, er schoß über das Eis, die Schreckensbilder, allein im unwirthlichen Eismeer gelassen zu werden, gaben ihm Riesenkraft, und – er ward gerettet. Als eben der Hintertheil des Schiffes aus der Eisbank hervorging, erreichte er den Rand der Bank, erfaßte das ihm zugeworfene Tau

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