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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Hier öffnete er das Paquet und fand statt des erwarteten Salzes das abgemagerte Kind. Er wurde wüthend darüber, riß dasselbe aus der Marginne, in die es eingewickelt war, warf es oben von dem Grenzwalle in den Grenzgraben, die Marginne aber behielt er zurück; ohne alle Beute wollte er nicht bleiben. Der Kosak mußte noch mehr haben; auch Rache für die erlittene Täuschung bemächtigte sich seiner.

Mare Müller war ihm unbewußt, unwillkürlich gefolgt; sie trat in den Grenzgraben, um ihr Kind aufzuheben; sofort sprang der Kosak zu ihr herunter, ergriff sie wieder, schlug und mißhandelte sie mit seinen Fäusten, bis er müde war; hierauf verschwand er mit der Marginne auf der anderen Seite des Grenzwalles.

Die Unglückliche nahm ihr Kind; es schrie, vor Hunger wieder, und jetzt auch vor Kälte. Der schützenden Marginne beraubt, war es nur noch von den alten, dünnen leinenen Windeln umgeben, und die waren doch wahrlich kein Schutz gegen jene strenge Kälte. Mare legte es fest an ihre Brust, aber dieselbe war selbst kalt; sie wickelte es in ihre Marginne, die sie an ihrem Leibe trug, ihren einzigen Rock; und sie hatte ja auch nichts Anderes, womit sie das Kind gegen die Kälte schützen konnte.

So ging sie weiter, selbst halbnackt, nur um ihr Kind zu bedecken, und gleichwohl war dasselbe kaum halb bedeckt.

Das kleine Wesen schrie fortwährend vor Hunger und vor Kälte; und auch die Mare war bis zum Tode erschöpft, und vor Kälte fast erstarrt.

Sie ging weiter in Preußen hinein.

So war sie in der Nähe des Dorfes Szlomiszken (sprich: Schlomischken) angelangt. Sie hätte dort bei mitleidigen Menschen Brot und, wenn auch nur auf eine Stunde, eine warme Stube finden können, daran aber dachte sie in ihrer Seelenangst nicht; sie ging vielmehr an dem Dorfe vorbei, seitab, auf die Landstraße nach Heidekrug zu. Welches Ziel verfolgte sie? Das wußte sie jetzt selbst nicht; kein einziger klarer Gedanke beherrschte sie, es war völlig wirr in ihrem Inneren. Sie konnte später in den Verhören nur Auskunft über die Thatsache geben, daß das Kind ohne Aufhören geschrieen und daß sie sich vergeblich bemüht habe, es zu beruhigen; daß sie sich mehrmals ermüdet habe niedersetzen müssen, und daß sie auf der Landstraße immer weiter fortgegangen sei.

So erreichte sie die Gegend des Dorfes Laudszen; hier war sie so ermüdet, daß sie gar nicht mehr weiter konnte. Das Kind war endlich eingeschlafen, die Schmerzen des Hungers und der Kälte hatten seine Kräfte erschöpft und waren dann dieser Erschöpfung gewichen. Am Rande der Landstraße ließ sie sich nieder. Dieselbe war dort zu beiden Seiten von Heideland umgeben, in der Heide selbst standen nur hin und wieder einzelne verkrüppelte Fichten; neben der Landstraße lief ein kleiner, schmaler Graben, der damals zugefroren war. Hier suchte die Mare Ruhe, ihr Kind aber legte sie vor sich auf ihren Schooß. Es schlief noch.

Und nun auf einmal kam wieder Bewußtsein in ihre Seele, aber ein Bewußtsein, das sie zu einer entsetzlichen That treiben sollte. Ihre Lage, ihr Schicksal trat vor sie. Verlassen und verstoßen von aller Welt, saß sie da mit dem armen Wesen in ihrem Schooße, das ohne sie gleichfalls von aller Welt verlassen und verstoßen war. Bei ihrer alten Mutter hatte sie keine Hülfe gefunden, keine Hülfe finden können; nicht einmal eine armselige Kruste trocknen Brotes; zu ihrer früheren Herrschaft konnte sie nicht zurück; ihr Bräutigam war fort, sie wußte nicht einmal wohin, und in der großen weiten Welt kannte sie keinen einzigen Menschen, der ihrer, der kranken, elenden Person, mit dem hülflosen Säugling, auch nur auf einen einzigen Tag sich angenommen, ihr Speise und Aufenthalt gegeben hätte. Und hatte sie nicht noch auf lange Zeit fremde Hülfe, Speise und Aufenthalt für sich und das Kind von Nöthen? Wohin? Wohin?

Dabei quälten sie Hunger und Frost, und schmerzte ihr noch die Mißhandlung des Kosaken.

Da kamen ihr die Worte in den Sinn, die ihre Mutter ihr zum Abschiede zugerufen hatte: wenn ich ein solches Ferkelchen hätte, so wüßte ich wohl, was ich thäte, ich schmisse es in den Dreck und träte es mit den Füßen.

Der Rand des Grabens, auf dem sie saß, bestand aus loser, sandiger Erde, der Schnee hatte sich an dem fast senkrechten Walle nicht festsetzen, der Sand war zu lose, als daß er hätte fest frieren können.

Als sie plötzlich der Worte der Mutter gedachte, kam ihr eben so unerwartet der Gedanke in den Sinn, in dem Walle des Grabens ihr Kind zu vergraben. Sofort schritt sie zur Ausführung. Ueber das, was sie that, über ihr Sinnen und Empfinden während der That kann keine Erzählung bessere Auskunft geben, als das mit ihr aufgenommene gerichtliche Verhörsprotokoll, in welchem in möglichst treuer Uebersetzung aus dem Litthauischen ihre eigenen Worte hier wieder gegeben sind.

Auf die Frage (des Inquirenten), was sie damals in ihrem Sinne gedacht habe, antwortet sie:

„Ich dachte über mein Schicksal nach, daß ich noch so jung und schon so unglücklich wäre, weil mich Niemand mit dem Kinde nehmen werde. Dabei schmerzte mich auch die Mißhandlung des Grenzkosaken, und es fiel mir wieder ein, was meine Mutter mir von dem Kinde gesagt hatte. Da nahm ich mir vor, mich des Kindes zu entledigen und es in der Erde zu vergraben, damit es sterben sollte und ich wieder frei würde. Aber sofort überkam mir auch eine solche Angst, daß ich dachte, ich müsse mir mit dem Kinde das Leben nehmen; es war mir, als wenn ich nur halb klug wäre; zuletzt hatte ich blos noch den Gedanken, daß ich das Kind vergraben und dann wieder einen Dienst suchen wolle. In solchen Gedanken saß ich wohl eine halbe Stunde da, dann stieg ich in den Graben an der Landstraße, kratzte in den Wall ein Loch mit der Hand, ungefähr so wie die Hunde die Erde aufzuwühlen pflegen, mit der andern Hand hielt ich unterdeß das Kind. In das Loch wollte ich das Kind legen.“

Auf eine nochmalige Frage nach ihrer damaligen Gemüthsstimmung sagt sie:

„So wie ich den Gedanken hatte, daß ich das Kind begraben wollte, war ich ganz dumm (sie sagte wörtlich „ganz dämelig“) und es war mir nur immer, als wenn ich das Kind jetzt vergraben müßte. An etwas Anderes dachte ich gar nicht mehr, und ich sah nur immer in den Graben, ob ich da nicht ein Loch fände. Als ich das Loch kratzte, war es mir ganz wunderlich; es war mir immer als wenn sich vor meinen Augen etwas in der Erde rührte.“

Sie fährt dann in ihrer Erzählung fort:

„Das Loch, das ich kratzte, war so groß, daß ich bequem das Kind hineinlegen konnte. Es war so tief, wie ein großer Mannesfuß lang. Ich legte das Kind hinein, mit den Lumpen, in die es gewickelt war; legte es auf die rechte Seite mit dem Gesichte nach dem Felde hin, dann warf ich den ausgekratzten Sand auf das Kind, bis es damit über und über bedeckt war. Das Kind weinte und wimmerte die ganze Zeit über.“

Auf die Frage, warum sie das Kind auf die rechte Seite gelegt, sagt sie:

„Ich dachte, wenn ich es so legte, so würde es noch länger leben, als wenn ich es auf den Bauch oder auf den Rücken legte. Es that mir leid, daß es so geschwinde sterben sollte; ich mußte auch viel weinen, als ich es hineinlegte, und ich küßte es noch einmal vorher.“

Sie wird gefragt, ob sie mit dem weinenden und wimmernden Kinde gar kein Mitleid gehabt habe.

Sie antwortet darauf unter heftigem Weinen nur:

„Wenn Einem der Teufel schon einmal im Rücken sitzt.“

Sie erzählt weiter:

„Als ich das Kind ganz zugedeckt hatte, setzte ich mich auf den Rand des Grabens und weinte. Und das arme Kind that mir sehr leid, auch dachte ich viel darüber nach, ob ich·es wieder herausnehmen oder liegen lassen sollte. So saß ich lange, bis ich einen Mann und eine Frau auf der Landstraße daher kommen sah; da lief ich fort. Das Kind wimmerte noch in der Erde, als ich mich entfernte. Ich dachte aber doch, es könne nicht mehr am Leben bleiben, weil es schon so lange gelegen hatte. Ehe ich die Leute kommen sah, wollte ich es wieder herausnehmen und sehen, ob es noch am Leben wäre; denn es that mir gar zu leid; ich hatte gerade diesen Vorsatz gefaßt, als ich die Leute kommen sah.“

Auf die Frage, ob sie nach dem Zukratzen des Kindes, als sie auf dem Walle gesessen, nicht daran gedacht habe, welch ein empörendes Verbrechen sie begehe? antwortet sie:

„Ich dachte wohl daran, daß ich eine große Unthat beginge, und ich sagte laut: mein Gott, was muß ich jetzt thun!“

So weit das Verhörsprotokoll.

Dazu nur noch eine Bemerkung:

Die ersten Thränen, die die Unglückliche seit ihrer Verstoßung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_144.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)