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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

öden Küsten in den kurzen Sommermonaten Januar, Februar und März zu rasten pflegen, dann ruht tiefste Einsamkeit und schauerliches Schweigen über den endlosen Eisfeldern. Das Reich des Todes breitet sich aus, sobald die lebendige Meereswelle zu grauer Eisdecke erstarrt. Zugleich hüllt aber auch die sechs Monate lange Polarnacht die Eisfelder in düsteres Dunkel und mehrt die Schrecken der Einöde. Da kann man mit dem nordischen Dichter sagen:

Rings dehnt sich aus das grause Nichts,
Sonst Ewigkeit geheißen,
Kein Freudenstrahl des Sonnenlichts
Mag diese Nacht zerreißen.
Hier ist nicht Zeit, hier ist nicht Raum,
Kein Wesen, keine Dinge –
Als ob im dunklen Fiebertraum
Das Nichts die Welt verschlinge.

Eiswall.

Kein Menschenauge hat diese Todeswelt des Südpolarmeeres gesehen, kein Ohr gelauscht, wenn von Zeit zu Zeit entfesselte Polarstürme hereinbrechen, wochenlang Schneestürme über die Eisfelder brausen, heulend an den Ecken der Gletscher sich brechen und haushohe Schneemassen auf den Ebenen aufhäufen. Haben sich aber diese Stürme ausgetobt, dann funkeln in reinstem Silberglanze die Sterne vom dunkelblauen Himmel herab und gießt der Mond seinen geisterhaften Schimmer über die Schneewüsten, daß sie schimmern und leuchten in wunderbarem Glanze, daß die Spitzen und Kanten der Gletscher blitzen und funkeln von tausend lichten Strahlen, und ein zauberhafter Schimmer sich ausbreitet über den Flächen, wie wenn die Auferstehung anbräche und der Saum der Unendlichkeit die Erde berührte. Die Phantasie ist kaum fähig, sich die großartige Erhabenheit einer mondhellen Nacht in diesen öden, schweigsamen Eiswildnissen vorzustellen, deren schauerliche Stille nur zuweilen vom gellenden Knall der Eissprünge unterbrochen wird, deren Echo sich tief hinein in die Eisgebirge verirrt. Da erwachen ringsum laute Stimmen, aus allen Eisklüften hallt es, tief in den Labyrinthen der Eisberge scheint es lebendig zu werden; bestürzt würde der Mensch lauschen, wenn er diese wesenlosen Stimmen ringsum vernähme, nach deren Absterben die bleiche Eiswelt wieder in Todesschweigen versinkt.

Eisberg, von Parry gezeichnet.

Die seltsamen Lichtwunder der Polarwelt gehen bis in’s Mährchenhafte, wenn am Horizont des Poles die zuckenden Südpolarlichter in ihrer bunten Farbenpracht empor steigen. Rothe, grüne, gelbe und weiße Flammen züngeln durcheinander, zucken hoch auf wie die Lohe eines ungeheueren Brandes, schießen in blendenden Strahlen weit über den Himmel hin, erblassen, wachsen dann wieder an zu feuriger Glut, weben und schweben durcheinander wie das Zauberspiel einer Laterna magica und streuen ihren Farbenschimmer über die stummen Eisfelder. Sieh, da brechen aus den Krystallen bunte Strahlen hervor, hüpfen an den Eiszacken auf und nieder, fliegen über die Schneefelder, um an einer Bergspitze aufzublitzen und in der in Schimmer verduftenden Ferne zu verschwinden. Da treten die phantastischen Gestalten der Eisberge in seltsamer Beleuchtung bald schärfer, bald matter hervor; hier schillert eine halb eingestürzte Pyramide, dort leuchtet eine vereiste Burgruine mit zerfallenen Mauern und dachlosem Thurme; hier breitet sich eine zerstörte Stadt aus; von der man noch einzelne Häuser und Thürme zu erkennen meint, während dort eine einsame Säule die Stätte bezeichnet, wo ein Tempel sich erhob. Sieh, ist hier nicht ein Palast mit zierlichen Erkern an den Ecken und Bogenfenstern zu Eis verzaubert und von Venedig an den Pol versetzt? Schimmert dort nicht ein erstarrter Wasserfall, ein im Aufsteigen eingeschlafener Springbrunnen neben dem Stumpf einer Tanne? Werden arabische Mährchen hier Wirklichkeit und befindet man sich hier in einer verzauberten Welt? – Seefahrer haben nur die letzten Reste dieser phantastischen Eisgebilde gesehen und sind doch auf das Tiefste ergriffen gewesen von den Wundern der polarischen Eiswelt.

Eiswand, mit Treibeis.

Wenn endlich nach dem langen Winter der kurze Sommer kommt, dessen Wärme aber selbst in den heißesten Tagen nicht über 10 Grad R. steigt, dann entfaltet sich eine neue Welt schauerlicher Phantastik. Das Meer ist des langen Zwanges überdrüssig, seine Wellen werden unruhig, drängen mit Riesenkraft aufwärts und sprengen endlich in wilden Stürmen die ungeheuere Eisdecke. Nun brechen wilde Revolutionen herein, die Zeiten der Titanenkämpfe scheinen zurückgekehrt; Tage lang donnert und dröhnt es, als ob die Welt zusammenbräche, von berstenden Eisschollen und niederstürzenden Lawinen und Gletscherbergen, von gegeneinander rennenden Eisinseln, heulenden Stürmen und brausenden Wogen, und dazwischen fegen Schneewetter, Hagelschläge und Regengüsse über die chaotisch durch einander taumelnden Eisberge oder stehen dichte Nebel über der zusammenstürzenden Wunderwelt und hüllen sie in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_137.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)