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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

da es jedes Jahr von den gigantischen Strömen Sibiriens aufgerissen und vom warmen Golfstrome sowohl fortgetrieben als aufgelös’t wird.

Der berühmte Geograph A. Petermann bewies dies der Admiralität in einer besondern Broschüre aus den bisherigen Expeditionen auf dieser Seite und durch mathematisch sichere Wissenschaft der Wärmevertheilung auf der Erde und zeichnete ihnen die gerade Linie außerdem noch mit brennendem Roth in eine beigegebene Karte und daneben die krumme, die in ewige Kanal- und Eislabyrinthe auslief. Alles vergebens. Man kann sagen, daß bei der englischen Admiralität selbst das Sprüchwort: „mit der Nase drauf drücken,“ zu Schanden ward. Es ist dieselbe Admiralität, welcher Charles Napier einmal vorwarf, daß sie schon bei einer Fahrt die Themse herunter seekrank würde, dieselbe Admiralität, welche bei den Wahlen auf dem Lande das meiste Geld für Bestechungen ausgiebt, und neuerdings die Flotten im baltischen und schwarzen Meere aus „Diplomatie“, Nachlässigkeit und Unwissenheit theils in Lächerlichkeit, theils in Stürmen, theils in Unthätigkeit verkommen ließ.

Sehen wir uns nach etwas Lebendigem in dem ungeheuern todten Cirkel ewigen Eises um. Wir finden schneeweiße Thiere mit kostbaren Pelzen und gelbbraune, geräucherte, fettglänzende, kleine, listige, lügnerische, tückische Menschen, in einzelne, schneebedeckte, rauchende Haufen verkrochen. Zwar zeigen sie viel Unterschiede, selbst racische, denn während einzelne Lappen kaum die Größe eines Kindes von drei Jahren erreichen, findet man Samojeden, die es an Größe und Kraft mit jedem „Weißen“ aufnehmen. Und die Esquimaux, welche hauptsächlich Zeugen der arktischen Expeditionen waren, übertreffen an List und Diebischkeit die geschultesten londoner Uebertreter des siebenten Gebots. Im Uebrigen sind sie ganz frei von Civilisation. Vom Lesen, Schreiben, Regiertwerden, Steuernzahlen, Kirchen, Kerkern und sonstigen Phasen höherer Kultur wissen sie nichts. Sie jagen und fischen nach Fleisch und Fett, um damit dem eingeathmeten Sauerstoff Brennmaterial zu liefern und sich auf diese Weise selbst einzuheizen. Nach Liebig besteht das Athmen und Verdauen in Heizung des menschlichen Körpers. Je kälter es ist, desto mehr heizen wir unsere Oefen und uns selbst. Der Magen ist nur der Ofen in uns. Die Kälte macht Appetit, d. h. die Natur fordert uns auf, Kohlenstoff und Wasserstoff (welche die Verdauung aus Fleisch, Fett und Oel bereitet) in den Magen zu schaffen, damit sie der eingeathmete Sauerstoff in Kohlensäure und Wasser verwandeln, und dadurch die thierische Wärme erzeugen könne. Diese Verwandlung ist genau dasselbe, was mit dem brennenden Holze im Ofen vor sich geht, nur nicht mit Flammenentwickelung und nicht so rasch.

Wir können uns daher nicht wundern, daß die Menschen jenseits des arktischen Cirkels bei gegen 40 Grad Kälte ganz anders einheizen, als wir. Ein braver, gesunder Mann bewältigt dort auf einmal einen Seehund und schlingt bei festlichen Gelegenheiten ein Pfund Talglichte hinterher oder gießt eine gute Kanne Fischthran oder sonstiges Oel in das Feuer seines Verbrennungs-Verdauungsprozesses. Doch um hier genau zu sein, lassen wir einen Engländer der arktischen Expedition, der bei einem Tusken (einer Sorte von Esquimaux) zu Tische eingeladen war, diese Mahlzeit selbst schildern.

„Der erste Gang bestand in einem großen Klumpen zusammengefrorner, frisch aus dem Wasser gezogener Fische. Um unsern Wirth nicht zu beleidigen, hieben wir uns auch Jeder ein Stück Eisfisch ab, aber sie waren uns wirklich zu frisch. Frisch aus dem Wasser, ungesalzen, ungekocht, unausgenommen, reine Natur und dabei noch in Eis verwandelt, das wie Glas zwischen den kauenden Zähnen der Gierigen splitterte und knirschte! — Der nächste Gang bestand aus einem großen Haufen grünlicher Masse, die zwei Mann auf einem schmutzigen Brette hereintrugen. Die ganze Familie griff gierig hinein und stopfte sich den Mund damit, hinter jeder Hand voll ein Quadrat Wallfischspeck herschiebend, welchen die Dame des Hauses zu diesem Zweck geschnitten hatte. Dieses Grünfutter oder „Gemüse“ schmeckte gar nicht übel, obgleich es weiter nichts war, als die noch nicht wiedergekäute Moosmasse aus dem Magen eines zu unseren Ehren geschlachteten Rennthiers. Die Wallfischquadrate, natürlich auch roh und geeis’t, statt gesalzen, waren uns so viereckig, daß wir kein einziges vertilgen konnten, so wiederholt wir auch eingeladen wurden. Mit ironischem Lächeln über unsern Mangel an Geschmack sah man uns zu, wie wir versuchten, ohne einen einzigen Sieg zu feiern. Nachdem diese „Schüssel“ geleert war, fuhr die Dame des Hauses mit schmutziger, knochiger Hand über das schmutzige Brett, denn sie hielt sehr auf „Reinlichkeit,“ und nachdem sie dieselbe ganz in den Mund gesteckt und auch diese auf diese naive Weise „gereinigt“ hatte, wurden gekochte Stücke Seehund und Walroß auf das Brett geworfen. Das Fleisch erschien uns zwar viel geeigneter zu starken Sohlen für Jagdstiefeln, aber es war doch etwas „Warmes“ und wir hatten längst unsere englischen Ansprüche aufgeben gelernt, so daß wir mit zulangten und unsern civilisirten Zähnen Heldenthaten der Urwelt zumutheten, worüber sich die ganze Familie sehr freute. Demnächst kam eine kohlschwarze, ebenholzartige Masse zum Vorschein, die uns anfangs selbst für die schärfsten Sägen oder Messer unverdaulich erschien, uns aber hernach nur desto mehr überraschte. Es war Wallfisch, den die Dame, welche die Honneurs machte, sehr geschickt in kleine Würfel zerschnitt, die dann von Jedem nach Belieben in den Mund hineingewürfelt wurden. Des Anstandes wegen versuchte ich’s auch. Wie überraschte mich aber der hübsche cacaonußartige, angenehme Geschmack dieser Delikatesse, die eigentlich nicht aus Fleisch, sondern aus der dicken Haut des Wallfisches bestand. Es folgte eine sehr geringe Quantität gekochtes Rennthierfleisch, dann Wallfischgaumen, welcher die Zucker- und Mandel-Näschereien unserer Nachtische vertrat. Die Tusken nennen ihn ihren Zucker, und ich muß gestehen, daß wenn ich an der reichsten Tafel die Wahl zwischen Wallfischgaumen und Konditorwaaren hätte, ich ersteren stets vorziehen würde. Schlecht gerechnet, hatte während dieses Mahles Jeder etwa 5—6 Pfund Fleisch und Fett oder vielmehr Fett mit etwas Fleisch als Brennmaterial in seinen innern Verdauungsofen hineingeschoben. Und das war bei dieser Temperatur gar nicht zu viel auf 6—8 Stunden. Auch darf man dort in Bezug auf die Zubereitung des Brennmaterials nicht zu wählerisch sein: es giebt keine besondere Auswahl und was die Natur bietet, reicht nur eben hin, wenn man sie aufzusuchen weiß. Ohne die thranigen, öligen, fetten Thiere und das Renn- und Elennthier besonders würde sich keine Lebensflamme dort erhalten können.“




Blätter und Blüthen.

Ein Volksgericht in Graubünden. Das heutige Bündnerland züngelt an zwei Orten in die Lombardei hinein, nämlich in Puschlav und im Bergell. Es ist, als sollte in diesen kleinen Thälern am südlichen Fuße der Alpen den Bündnern noch eine Erinnerung an die alte Zeit bewahrt bleiben, da ihre Vögte im Prachtgarten von Cläven geherrscht und an den lachenden Ufern der Adda sich bereichert haben. Sowohl im unteren Bergell als im Brusaskerthal, der Fortsetzung des Puschlaverthals, bewundert der Wanderer südlichen Pflanzenwuchs und wird von milden italienischen Lüften angeweht. Nicht nur der Kastanien- und Feigenbaum, sondern auch Sprache, Gesichtszüge, Haare, Kleidung und mancherlei Sitten und Gebräuche der Einwohner sagen ihm, daß er sich an der Schwelle Italiens befinde. Am Ende des wunderschönen Puschlaversee’s steht das Dörfchen Meschino, welches, wie sein Name andeutet, ziemlich armselig aussieht. Von da stürzt der Poschiavino schäumend und tosend durch ein enges, sich rasch absenkendes Thal in die Adda hinunter. In diesem Thale liegen die zerstreuten Häusergruppen und zwei Kirchen der paritätischem Gemeinde Brusio, welche der Schauplatz unserer Erzählung ist.

Mannigfaltigkeit, Größe und Gegensatz ist im Allgemeinen der unterscheidende Charakter der Landschaften der Schweiz. Das gilt im Besondern auch vom Thale am südlichen Fuße des Bernina. Die Riesengestalten der Hochgebirge streben weit über die Wolken empor, oft zwei- bis dreifach über einander hervorblickend, und zu oberst erglänzen die weißen Eismassen, welche im Strahle der Morgen- und Abendsonne wie vergoldet aussehen. Am Fuße dieser Gebirge sammelt der Landmann auf seinen Aeckern zwei Ernten im Jahre, mäht dreimal seine Wiesen und ißt drei Monate fast täglich Kastanien von seinen Bäumen. Nicht nur an erhabenen Naturscenen, auch an geschichtlichen Erinnerungen ist die vom Poschiavino durchströmte Landschaft sehr reich. Wie oft zogen in älterer Zeit Kriegsschaaren von den wilden Höhen des Bernina durch dieses Thal in die zahmen Gefilde der Lombardei hinunter! Wie viel erzählen noch jetzt davon die Väter ihren Kindern und Enkeln! Im gegenwärtigen Jahrhundert ist die Stille des Thales noch nie durch Kriegsgetümmel, um so öfter dagegen durch schreckliche Naturereignisse unterbrochen worden.

Die Felsen sind nämlich vorherrschend von grauem Schiefer und Kalk, verwittern daher rasch, lösen sich in größere und kleinere Steine auf und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_123.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2021)