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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

schweres Geschütz, wodurch die schönsten Mädchen als Frauen bald Habitus und Ansehen eines versoffenen Dragoners bekommen.

Eine Wirthschaft mit einer „schlechten Wirthin“ ist doppelte Junggesellenwirthschaft: Die schlechte Wirthin ist auch eine schlechte Mutter. Man giebt in England und Amerika „anständiger“ Weise die Säuglinge Ammen und die Kinder in „Boarding-schools“, wörtlich: „bretterne Schulen“, Erziehungsanstalten, worin den Kindern Bretter vor den Kopf genagelt werden, Bretter der Koketterie, des Dünkels auf vornehme Geburt, des Vorurtheils gegen „Farbe“ und Armuth, worin — um das Schlimmste zu sagen — die Kinder mutterlos aufwachsen. Ich weiß nicht mehr, wie der geniale, aber liederliche Officier Napoleon’s hieß, der ihm viele Feldherrenpläne verdarb und manchmal wie ein Wilder haus’te. Einmal schwer angeklagt, entließ ihn Napoleon, von dem Ney und andere Generäle eine schwere Strafe für den schlechten Kerl verlangten, mit den Worten: „Was kann man von ihm verlangen, der ohne Mutter aufwuchs?“ — Die anständigen Kinder wachsen in Amerika und England mutterlos auf, die unanständigen ganz elternlos. Was wachsen unter diesen Umständen für Geschlechter auf? Jünglinge, die ihre Vatermörder spazieren führen, denen jeder Rock zu weit und jeder Gedanke zu schwer ist, Mädchen, die blos roth werden, wenn sie am Kaminfeuer braten, allenfalls noch, wenn man in ihrer Gegenwart deutsche Frauen und Mädchen lobt (aber nicht schön, sondern wuthroth). Sie liefern Rekruten für die Konditoreien und die — Geisterklopfer-Sekten, die jetzt in mehreren hundert Gemeinden und mehr als funfzig Zeitschriften ihr Wesen treiben und das Bischen gesunden Mutterwitz, der ohne Mutter geblieben, vollends verjagen. Ueber diese Geisterklopfersekten und Gemeinden „der freien Liebe“ ein andermal.

Die deutschen Familien mit ihren Frauen und Kindern, mit ihren gesellschaftlichen Turn-, Musik- und Gesangsfesten wirken unter diesen Amerikanern blos dadurch, daß sie unter ihnen leben, als Missionäre. In manchen Gegenden überwiegen sie bereits durch den Einfluß ihres Lebens und Arbeitens, im Allgemeinen herrscht aber jetzt die Furcht und der Haß gegen ihre Ueberlegenheit, gegen ihren mächtig hervortretenden Sieg in Industrie, Kunst, Wissenschaft, Fleiß, Geschicklichkeit und Production aller Art. Man will sie politisch ausschließen; wenn aber auch die Knownothings auf eine Zeit damit herrschen, die Deutschen sind sicher, und ihr Einfluß läßt sich nicht mehr absperren. Es ist nicht möglich, weil ihr deutsches Leben mit echter weiblicher Wirthschaftlichkeit und Kindererziehung beständig, allseitig materiell und moralisch wirkt und Propaganda macht, zumal in Gegenden, wo Landbau und Meierei den Genius der sorgsamen, wahrenden, sparenden, ordnenden Hausfrau zur ersten Lebensbedingung erheben.

Was Frankreich unter allen politischen Umwälzungen und Gelderpressungen so unerschütterlich macht, daß die Leute sich nicht nur halten, sondern auch immer wieder emporkommen, daß sie mit einigen Sous auskommen, wo anderwärts Franks nicht hinreichen, das ist die wirthschaftliche, heitere, anspruchslose, in allen Unglücksfällen sich zärtlich erscheinende und stark sich erhebende Frau, die immer etwas von den unnachahmlichem graziösen Tugenden der pariser Grisette hat. Dieselbe Lebenskraft verdankt Deutschland seinen Frauen, obwohl diese im Durchschnitt nicht so anspruchslos, so leichtsinnig und – gewissenhaft sind, als die braunäugigen, kleinen Französinnen

Die Deutschen in Amerika haben unter manchen Entbehrungen, die nur das Land gewähren kann, wo unsere Wiege stand und wir Rothkelchen fingen, den Vorzug vor den Deutschen in Deutschland, daß sie die Kleinstaaterei verlernen und auch nicht nöthig haben, sich über Monarchie und Republik die Köpfe und Hälse zu zerbrechen, daß sie lernen müssen, sich in die politische Freiheit zu fügen, was ihnen aber meist am schwersten fällt, da sie gar zu sehr an Polizei und hohe Obrigkeit gewöhnt sind, welche wie höhere Wesen über allem Leben, Thun und Denken schweben soll. Dadurch gewinnen sie Zeit und Geist, das deutsche Wesen reiner, edler, ganzer aufzufassen und zu kultiviren, wie das im Mutterlande gestattet ist. Und so finden wir den Germanismus in Amerika besonders getragen und gepflegt in der Sprache, in der Presse, in gesellschaftlichen Vereinen und Freuden, besonders in Gesangs-, Musik- und Turnvereinen.

Hinter Cincinnati wurden die Deutschen einmal von regelmäßigem Militär angegriffen und beschossen. Sie schossen nicht wieder, sondern machten, etwa ein Fünftel an der Zahl des Feindes, den Turnlauf mit Lanze gegen die Colonnen feiger Schußwaffen und trieben diese wie Spreu auseinander. In Kalifornien und Texas sind es zum Theil diese Turner allein, welche ganzen Gegenden Sicherheit der Person und des Eigenthums gewähren.

Das Turn-, Musik- und Gesangs-Element wollen wir nicht weiter verfolgen, sondern blos die deutsche Presse in Amerika näher ansehen. Sobald in irgend einem Winkel Amerika’s sich so viele Deutsche zusammenfinden, daß die Möglichkeit eines Wochenblättchens auftaucht, findet sich auch eines schönen Morgens immer bald dieser Sprechsaal für die deutschen Interessen ein, worin Belehrung über das politische Parteileben Amerika’s auch bald Gestalt und Partei nimmt.

Und so dauert es nie lange, so findet sich auch ein zweites Blättchen, das Organ der andern Partei; denn daß zwei Deutsche schon in der Regel zwei Parteien bilden, ist eine alte Geschichte auch in der neuen Welt. Es ist eine Tugend des Deutschen, daß er gern auf eigenen Kopf besteht und auf eigenen Füßen geht, aber die Folge davon ist hier und drüben leider, daß er erst lernen muß, gegen gemeinsame Feinde sich einer Einheit unterzuordnen. In Deutschland besorgt ihm diese Tugend die Obrigkeit, in Amerika muß er sie selbst lernen. — Es existiren jetzt, nach der neuesten Abschätzung in Nordamerika mit Einschluß von Texas und Kalifornien, über zweihundert deutsche Zeitungen, Zeitschriften und Journale, darunter etwa zwanzig täglich erscheinende.

Während gegen den Auswanderungsstrom nach Amerika eine Reaktion entstand, so daß Tausende zurück auswanderten und die Zahl der neuen Ankömmlinge von 336,000 im Jahre 1854 voriges Jahr auf 136,000 sank, vermehrte sich die deutsche Presse 1855 um folgende Organe: „Anzeiger des Nordens“ in Rochester, Staat New-York; „Burlington Freie Presse“ in Burlington Iowa; „der chrisiliche Apologete“, orthodox; „die Gegenwart,“ New-York, radikal; „Hermann Volksblatt,“ Hermann; „Hudson-Zeitung,“ Hoboken bei New-York; „Iowa-Staatszeitung,“ Dubuque in Iowa; „Jefferson Demokrat,“ Jefferson, Pensylvanien; „der Lindenmüller,“ Lokalwitzblatt in New-York, von dem bekannten Lindenmüller aus Berlin; „der Lichtfreund,“ Buffalo, New-York, antikirchlich; „das Michigan-Journal,“ Detroit, Staat Michigan; „Milwaukie-Journal,“ Milwaukie, Wisconsin; „Minnesota deutsche Zeitung“, St. Paul, Minnesota; „National-Demokrat,“ Chicago, Illinois; „National-Zeitung,“ Philadelphia; „die neue Zeit,“ New-York; „Philadelphia Wochenblatt,“ „das Quincy-Journal,“ Ouinzy, Illinois; „Racine-Volksblatt“ Racine, Illinois; „Richmond-Anzeiger,“ Virginien; „Schul- und Jugendzeitung,“ Indianopolis, Indiana; „Syrakuse-Zeitung,“ Syrakuse, New-York, communistisch; „die Staaten Isländer,“ New-York, Stapelton; „St. Louiser Volksblatt,“ „St. Franzisko-Journal“ (auf einem Dampfschiffe gedruckt; „die Union,“ Galveston, Texas; „Unsere Flagge,“ Tiffin, Ohio; „Vorwärts,“ Galena, Illinois; „Washington Wochenblatt,“ „Cramford County Demokrat,“ Bucyrus, Ohio; „Port Washington-Zeitung,“ Wisconsin. Also 31 neue Blätter in einem Jahre, von denen nur fünf wieder eingegangen sind, darunter „der Lindenmüller,“ „der Lichtfreund“ und die communistische Syrakuse-Zeitung. Außerdem gingen noch acht ältere Zeitungen ein, aber blos verdrängt von bessern. Und Summa Summarum vermehrte sich die deutsche Presse in einem Jahre der geringsten Einwanderung und vielfacher Rückauswanderung doch um nicht weniger als achtzehn Organe. Darunter sind einige sehr respektable mit Original-Arbeiten über politische, wissenschaftliche, sociale, besonders naturwissenschaftliche Stoffe, obwohl die selbstständigen Arbeiten auch in den besten nicht zur Füllung hinreichen, da sie fast alle sehr groß und spaltenreich sind. So müssen deutsche Blätter, wie „Magazin für die Literatur des Auslandes“, „Ausland“, „die Gartenlaube“, „die Natur“ u. s. w. und selbst deutsche Romane herhalten, um den Mangel an Originalartikeln zu ersehen. Viele ältere Zeitungen haben sich vergrößert und verbessert, besonders durch fleißige Bearbeitung der bis jetzt in Zeitungen sehr kümmerlich behandelten naturwissenschaftlichen Materialien. Auch Erziehung und Schule, die gemeinsamen Interessen der Sprache, des Turnens, der Festlichkeiten, politischer Haltungen der jetzigen Krisis gegenüber treten im Ganzen nobel, gesund und kräftig auf. Besonders tüchtig und sehr wirksam erweisen sich das St. Franzisko-Journal, redigirt von Rühl, „die neue Zeit“ unter Redaktion des Dr. Löwe aus Kalbe, „der National-Demokrat“ in Chicago, „die Union“ in Texas und die „Minnesota deutsche Zeitung.“ Von ältern Blättern

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