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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 8. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Frage.[1]

Was ist das für ein Herz, das immer blutet,
Und doch so oft vom Glücke überflutet,
Hier zwischen Furcht und Hoffnung ewig schwankt?
Was rastlos abmüht sich in tausend Plänen,
Abwechselnd unter Beten, unter Thränen
Dem Himmel seine reinsten Freuden dankt!?

In welcher Brust schlägt wohl das Herz, das eine,
Was keine Hoffnung kennt auf Erden, keine,
Die’s nicht für eine zweite Seele hegt?
O, such’s nicht in der Braut am Hochaltare,
Nicht bei dem Jüngling im gelockten Haare,
Auch nicht im Greis, den müd’ die Erde trägt!

Das Herz, von dem ich als das Größte spreche,
Das ein Gemisch von Riesenkraft und Schwäche,
Ein Labyrinth von Seligkeit und Schmerz,
Ein Sorgenmeer, zugleich ein Meer der Wonne,
Wo’s heute Nacht, wo’s morgen lichte Sonne,
Es ist und bleibt allein – – das Mutterherz!!


Blind und doch sehend.
Von Elfried von Taura.
(Schluß.)

„Ich kann nicht, ich kann nicht!“ klagte er mit Thränen im Auge – „Verzeihen Sie mir – ich bin zu tief bewegt – ein andermal, wenn ich ruhiger bin.“ –

„O, es eilt ja nicht, Herr Doktor“ – sagte Clelia lächelnd, – „und Du hast so lange mit mir Geduld gehabt, lieb Väterchen – Du wirst sie auch noch länger haben.“

Der Greis zog sie an seine Brust. Rudolf stand verwirrt und beschämt da – er hätte mögen in die Erde sinken. Doch Widerhold sprach: „Beruhigen Sie sich, Doktor – ich kann mir denken, wie einem Mann von Gefühl bei einem solchen Unternehmen zu Muthe sein muß.“

Der Sprecher wurde unterbrochen, indem die Haushälterin meldete, daß ein Gefangener ihn zu sprechen begehre. Als sich Rudolf mit Clelia allein sah, stürzte er vor ihr nieder.

„Clelia,“ flehte er, „verzeihen Sie mir diese Täuschung, und stellen Sie mich nicht jenem Charlatan an die Seite!“

Da beugte sie sich zu ihm und bat um seine Hand. Und als er sie ihr gereicht und unter ihrem Drucke erglühen fühlte, da entquoll seinen Lippen das Geständniß des eigentlichen Grundes seiner augenblicklichen Unfähigkeit – seiner heißen Liebe. Da erzitterte die liebliche Gestalt, da sank sie fast bewußtlos in seine Arme und zwei unentweihete Lippenpaare fanden sich im keuschen Verlobungskuß. Da sah das blinde Mädchen den Himmel offen und sich mitten darin; da wurde dem Gefangenen der Kerker zum Paradies und er pries Gott, der seine wunderbare Liebe in das dunkle Erdenleben sandte, und ihr Macht gab, selbst in die schauerlichsten Finsternisse zu dringen und sie zu verklären.

Wie Clelia geahnt, rächte sich der Däne für die ihm widerfahrene Schmach dadurch, daß er der Polizei die Identität des Kapitain Gildenstern mit dem Flüchtling Eduard Widerhold verrieth. Aber als die Polizei ihn im Hafen suchte, hatte er schon

die offene See gewonnen. Nun wurde Vater Widerhold zur Verantwortung


  1. Das schöne Gedicht: An meine Mutter in Nr. 5 unseres Blattes hat viele Mutterherzen so mächtig angeregt und gerührt, daß uns von allen Seiten theils Worte des Dankes, theils Nachahmungen des Gedichts zugingen, die sämmtlich in schönen und minder guten Versen die überschwellenden Gefühle des Mutterherzens schildern. Von den vielen eingelaufenen Gaben lassen wir hier nur eine folgen, der man Wärme und Wahrheit des Gefühls nicht absprechen wird.
    D. Redakt.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_101.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2017)