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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

daß es weniger Lug und Trug in der Welt giebt, als wir im Allgemeinen anzunehmen geneigt sind. Es giebt Lügner, die niemals lügen, Geisterseher und magnetische durch neun eiserne Thüren Seher, die wirklich aus eigener Anschauung schöpfen und sprechen.

Nur noch ein Wort über die spontane oder freiwillige Aktion im Organismus, im Gegensatz zu der unwillkürlichen des Herzschlages, des Athmens u. s. w. Das Nervensystem gleicht einer Orgel mit stets geladenen Blasebälgen und stets bereit und drängend, sich durch jede geöffnete Pfeife ihrer Ueberfülle von Wind zu entledigen.

Die Erregung unserer Sinne, Empfindungen und Gefühle, unser Denken und Wollen ist der Herr Cantor, der darauf spielt und bestimmt, durch welche Pfeifen der Wind blasen soll. Die Register der Sprache und des Gesanges, wenn gesund und kräftig, fangen oft auch ohne Cantor und Organist an zu spielen. „Ungeheure Heiterkeit“ zersprengt die Klappen, und der übermüthig mit Gesundheit geladene Schusterjunge singt gröhlend in die Welt hinein, um, wenn er aufhört, furchtbar zu pfeifen. So singt auch der Vogel aus reiner innerer Ueberfülle an Nervenkraft und Lebenslust, wenn nicht ganz aus freien Stücken, doch gleich, sobald an einem warmen Junimorgen früh um drei Uhr ein anderer Vogel seine erste Pfeife geöffnet. In kurzer Zeit jubelt der ganze duftige Wald und der ganze morgenrothüberhauchte Himmel von Lerchengetriller.

Der Gesang des Vogels ist der wahre Typus aller „freien Sänger“. Wenn ein Dichter seine schlechten Verse loben und entschuldigen will, singt er: „Ich singe wie der Vogel singt,“ ich muß, ich kann nicht anders, es quillt mit Gewalt heraus.

Diese merkwürdige Erzeugung von Kraft und Uebermuth im Innern ist ein Lebensgeheimniß des Nervensystems. Starke, junge Nerven nöthigen deshalb ihren Organismus, sich auf die verschiedenste Weise dieses Uebermuthes zu entledigen. Mit welcher gottvollen, unermüdlichen Heiterkeit und graziösen Fülle spielt die junge Maikatze, besonders wenn sie einen Zwirnsknäuel erwischt hat! Der nervöse Hund, nach langer Haft in’s Freie geführt, welch ein göttliches Bild von sich entladender Ueberkraft im freudigsten Gebell, in den tollsten Sprüngen, in unaufhörlichen Zickzacks! Der Reiter nennt sein Pferd „frisch,“ wenn die in ihm gesammelte Nerven- und Muskelkraft noch nicht gebraucht ward. Volle Gesundheit, natürliche Kraft und Jugend nöthigen uns oft mit Gewalt, aus der stubendunstigen Enge hinaus zu fliegen, nur die angesammelte Ueberkraft los zu werden. Die unverwüstliche Lust an Bewegung und Spiel in jungen, kräftigen Kindern folgt aus der Nothwendigkeit, sich des stets drängenden Uebermaßes von Nervenkraft und Lebenslust zu entledigen. Man sollte daher besonders dieser quellenden Jugend diesen Uebermuth so wenig als möglich beschränken und sich während der ersten acht Jahre unserer Kinder damit begnügen , diese Kraft in der körperlichen Erziehung entsprechenden Kanälen abzuleiten.

Von weiteren und höheren psychologischen Funktionen gelegentlich.




Der Giftmischer Palmer.

Die berühmtesten Giftmischer und Giftmischerinnen der vergangenen Jahrhunderte haben jetzt in dem Giftmischer und Fälscher William Palmer in England einen Genossen gefunden, der sich ihnen nicht nur kühn zur Seite stellen kann, sondern sie fast alle an Größe und Umfang seiner Verbrechen übertrifft.

Indem wir den umfänglichen Aufzeichnungen eines brüsseler Blattes über diesen entsetzlichen Menschen folgen, geben wir folgendes Nähere über seine Verbrechen.

Im Trentthale in Staffordshire liegt an der Nordwesteisenbahn die kleine aber wohlhabende Stadt Rugely. Nichts Anmuthigeres läßt sich denken, als die mit schattenden Bäumen besetzten Straßen des Ortes und die rings um denselben liegenden grünen Wiesen. Einen Büchsenschuß etwa von der steinernen Brücke, welche die Ufer des lieblichen Trent verbindet, erhebt sich ein anmuthiges Haus. Es ist aus Ziegelstein erbaut, und durch eine Allee, die von seiner Thür ausläuft, mit dem Flusse verbunden. Auf dem reinlichen Hofe stehen Orangen- und Lorbeerbäume in Kübeln, und unweit von dieser Wohnung dehnt sich ein Friedhof aus, unter dessen Hügeln die vergangenen Generationen schlafen.

In diesem anmuthigen Hause nun wohnt die Wittwe eines Holzhändlers, der, nachdem er sich durch geheimnißvolle Spekulationen bereichert hatte, durch einen eben so geheimnißvollen Tod in’s Grab sank. Unter dem Dache des Hauses ward eine zahlreiche Familie geboren. Mistreß Palmer, so heißt die Wittwe, gab fünf Söhnen und zwei Töchtern das Leben. Von diesen Söhnen ward der erste Advokat, der zweite Prediger, der dritte Arzt, der vierte Kornmäkler, der fünfte Holzhändler. Von den beiden Töchtern lebt die eine noch, und erfreut sich wie die Mutter einer allgemeinen Achtung. Die zweite fand, in Folge von Trunksucht, ein frühzeitiges Ende. Obgleich reich und deshalb einflußreich, hatte diese Familie in der Dunkelheit gelebt, bis eins ihrer Mitglieder, der Arzt William Parker, durch seinen Prozeß ihr eine traurige Berühmtheit verschaffte.

William Parker ist fünfunddreißig Jahre alt, und war bis vor Kurzem in seinem Geburtsorte ausübender Arzt. Mit einem angenehmen Aeußern verbindet er ein eben so angenehmes joviales Wesen; er war wohlthätig gegen die Armen, höflich gegen Leute, die tiefer standen als er, und ein großer Freund des weiblichen Geschlechts. Seine außer der Ehe erzeugten Kinder starben bald nach ihrer Geburt; vier seiner ehelichen Kinder hatten dasselbe Loos, nur ein einziges, sieben Jahre alt, ist noch am Leben. Palmer hatte die uneheliche Tochter des Obersten Brooks von der ostindischen Armee geheirathet. Nach dem Tode des Obersten, der ermordet wurde, ohne daß man den Mörder je entdeckte, fiel der Nießbrauch seines Vermögens seiner Geliebten und das Vermögen selbst seiner Tochter, der Frau Palmer’s, zu.

Palmer hätte in der Verbindung mit dieser liebeswürdigen Gattin ein glückliches Leben führen können. Aber andere Plane beschäftigten seinen ruhelosen und abenteuersüchtigen Geist. Ganze Nächte brachte er in seinem Studirzimmer zu, wo er sich mit den Eigenschaften der Gifte, des Strychnins, der Blausäure und des Morphins beschäftigte. Seine Leidenschaft für die toxikologische Wissenschaft war so groß, daß er einem seiner Lieblingspferde den Namen „Strychnin“ gab. Palmer war ein großer Pferdeliebhaber. In einer Stadt mit einem bedeutenden Pferdemarkt erzogen, keimte bald die Lust an diesen edlen Thieren in ihm auf, und in spätern Jahren war es seine Manie, wie die großen Herren des Landes schöne Pferde zu halten, die Wettrennen zu besuchen und hohe Wetten zu machen. Dieses sehr kostspielige Vergnügen verschlang indeß bald sein Vermögen. Seine unglücklichen Wetten führten ihn den Wucherern in die Hände, er lieh Geld zu hohen Zinsen und wußte sich endlich nicht mehr zu helfen. In dieser seiner Bedrängniß zog gerade seine Schwiegermutter in sein Haus, um ihrer Tochter nahe zu sein. Aber schon vier Tage nach ihrem Einzuge starb diese Frau, und die bedeutenden Einkünfte, die sie bisher von dem Vermögen ihrer Tochter gezogen hatte, gingen jetzt auf diese und ihren Mann über, der dadurch aus seiner Verlegenheit befreit wurde. Das Vermögen der Mistreß Palmer mußte indeß nach ihrem Ableben an ihre Kinder fallen. Palmer wandte sich daher an drei Lebensversicherungsgesellschaften, welche sich verpflichteten, ihm am Todestage seiner Gattin 13,000 Pfd. Sterling auszuzahlen. Bald nach diesem Schritte, am 24. Januar 1854, ward Mistreß Palmer von einem Kinde entbunden, das nur zwei Tage lebte. Am zweiten Tage ließ Palmer einen achtzigjährigen Arzt, Namens Bamford kommen, der eine Mixtur verschrieb. Der Vater reichte die Arznei selbst seinem Kinde, und dieses starb eine Stunde nachher. Einige Monate später kam ein Herr Bladen, der Agent einer großen Brauerei, von dem Palmer bei einem Wettrennen 400 Pfund Sterling geliehen hatte, nach Rugely um an die Wiederbezahlung zu mahnen. Palmer lud ihn ein, die Nacht bei ihm zu wohnen. Mr. Bladen willigt ein, und wird in der Nacht krank. Der alte Doktor wird gerufen und verschreibt eine beruhigende Arznei. Eine Stunde nachher hat er aufgehört zu leben und – Palmer sein Schuldner zu sein.

Im September 1854 kehrte Mistreß Palmer von einem Concert in Liverpool mit einer leichten Unpäßlichkeit nach Rugely zurück. Ihr Mann reichte ihr am folgenden Tage eine Tasse süßen Thee ohne Milch. Nachdem Mistreß Palmer davon getrunken

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_078.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2017)