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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Sie lud noch einmal den Gast zum Sitzen ein. Der Oberst ließ sich auf dem Sessel nieder, die Freifrau nahm ihm gegenüber Platz.

„Gnädige Frau,“ begann ruhig der Greis, „ich bin Soldat und pflege mein Ziel auf dem geradesten Wege zu verfolgen – demnach theile ich Ihnen ohne Umschweife mit, daß ich als Vater Henriette’s zu Ihnen gekommen bin. Wir stehen Beide in dem Alter, in dem die Leidenschaften keine Gewalt mehr haben und jede Uebereilung uns doppelt angerechnet wird – ja, gnädige Frau, Sie bereiten einen Eclat vor, der uns Beiden bei unsern Standesgenossen schaden wird.“

„Was meinen Sie?“ fragte verwundert die Freifrau.

„Ich meine die Anklage gegen Henriette’s Gatten, die Sie wahrlich nicht bedacht haben.“

„Ah, das ist es!“ rief sie. „Herr Oberst, ich überdenke stets meine Handlungen, und bevor ich etwas unternehme, kenne ich nicht nur das Ziel, ich weiß auch, daß ich es erreiche.“

Der Oberst sah bestürzt die Freifrau an, aus deren dunkeln Augen stechende Blicke schossen.

„Madame,“ sagte er fast staimmelnd, „Sie sind eine Frau, Sie sind selbst Mutter, Sie lieben Ihre Kinder –“

„Und daran erinnern Sie mich, Herr Oberst, Sie?“

„Noch mehr: ich erinnere Sie auch daran, daß Sie in dem vorliegenden Falle nicht zum Ziele gelangen werden.“

„Dann begreife ich nicht, warum Sie gekommen sind!“ sagte höhnend die aufgeregte Dame.

„Ich bin gekommen, um der Schwiegermutter meiner ältesten Tochter die Reue zu ersparen, die Reue über einen Schritt, den sie – ich wiederhole es – nicht überlegt hat. Zu diesem Zwecke wende ich mich nicht nur an Ihr Herz, sondern auch an Ihren Verstand. Noch ist es Zeit, die Uebereilung wieder auszugleichen; warum soll die Welt erfahren, daß eine Dame aus dem Adelstande eine Rache übt –“

„Genug, mein Herr!“ rief auffahrend die Freifrau.

„O, Sie müssen mich hören, Madame! Ich kann Sie nicht verlassen, ohne eine Verständigung herbeigeführt zu haben, die uns Beiden zum Heile gereichen wird. Sie wollen den jungen Baron von Nienstedt und mit ihm Henrietten verderben, weil die gegenseitige Neigung der beiden jungen Leute einen Ihrer Pläne vereitelte – Sie holen ungewisse Anhaltepunkte aus einer Vergangenheit, die fast in das Knabenalter dessen fällt, den Sie hassen – Madame, Sie nehmen zur Denunciation Ihre Zuflucht, um eine vermeintliche Beleidigung zu bestrafen! Wahrlich, wer vor diesem Gedanken nicht zurückbebt,“ fügte der Greis wie empört hinzu, „ist ein Sclave seiner Leidenschaften oder sein Herz hat nie edlere Gefühle gehegt.“

Frau von Erichsheim zuckte zusammen, als ob ein Dolchstich ihr Herz durchbohrte; aber anscheinend verlor sie ihre Fassung nicht, sie spielte vielmehr die unschuldig Gekränkte.

„Mein Herr,“ flüsterte sie, „ich begreife, daß die Verständigung von mir ausgehen muß. Sie wähnen, die jüngste Vergangenheit liefere die Motive zu meinen Handlungen – gehen Sie weiter zurück, fünfundzwanzig, dreißig Jahre – versetzen Sie sich in die Zeit, wo Emilie von Windheim noch jung und, wie man sagte, noch schön war; erinnern Sie sich, daß man sie wie eine Königin feierte, daß sie glänzende Vasallen an dem Fuße ihres Thrones sah, aber daß sie nur einem gewogen war, daß sie nur einem gestattete, ihr seine Huldigungen darzubringen. Die arme Emilie liebte ihren Vasallen, wie er sich oft selbst nannte und sie glaubte sich wieder geliebt, denn sie empfing schriftlich und mündlich die Versicherungen. Da ward der junge Offizier zu einem fernen Regimente versetzt, und Emilie empfand bei der Trennung, daß ihre Neigung eine Leidenschaft geworden war, die sich ihres ganzen Wesens bemächtigt hatte. Hoffend auf die Treue des Geliebten, sonderte sie sich von der Welt ab, sie lebte für ihn, dachte an ihn und ertrug ruhig den Zorn des Vaters, der ein vortheilhaftes Heirathsproject für seine einzige Tochter hegte. Niemand kannte den wahren Zustand ihres Herzens, und deshalb hielt man sie allgemein für überspannt, für ein Mädchen, das über ihren Stand hinaus wollte. Was kümmerte sich Emilie darum? Ein Brief von dem Geliebten entschädigte sie für Alles und erhielt ihren Muth aufrecht. Er schrieb von Hindernissen, die sich einer Verbindung entgegenstellten; sie begriff die Unmöglichkeit einer raschen Erfüllung ihrer Wünsche, und deshalb beschloß sie, in Ergebung zu warten. Da starb ihr Vater plötzlich vom Schlage getroffen, und hinterließ seiner Tochter Nichts als ein kleines, überschuldetes Gut. Emilie wies die besten Anträge um ihre Hand zurück, sie kämpfte mit Entbehrungen und mit der stets wachsenden Sehnsucht nach dem Geliebten, sie verlebte furchtbare Tage, aber sie blieb ihrer ersten Neigung treu, Die Anmuth und der Stolz der schönen Emilie machten sie bald zum Gegenstande des Spottes und endlich auch der Lächerlichkeit, es verbreiteten sich selbst Gerüchte, die ihrer Ehre nachtheilig waren. Herr Oberst, der junge Offizier, um den sie so viel litt, avancirte, er avancirte rasch, damit er die Tochter seines Generals heirathen konnte. Die Kunde davon schmetterte Emilien zu Boden; der Zufall wollte, daß ihre getäuschten Hoffnungen bekannt wurden, und anstatt daß man sie bemitleidete, verlachte man die stolze Schönheit. Noch mehr: nach zwei Jahren kam der treulose Geliebte als Oberst nach M., wo das verlassene Mädchen trauerte. Sie sah ihn an der Spitze seines Regiments – dieser Anblick brachte sie fast dem Wahnsinne nahe; aber ihr starker Geist widerstand, sie ward ruhiger, und endlich gleichgültig gegen den treulosen Mann, den man allgemein achtete, selbst feierte. Ein Husarenoberst von dreißig Jahren ist eine interessante, pikante Erscheinung! Die Lage Emilien’s war eine traurige, denn die Armuth zwang sie, aus der Sphäre zurückzutreten, der sie eigentlich angehörte. Kein Freier ließ sich mehr sehen, man hatte das blutarme Fräulein vergessen. Und wer trug die Schuld davon? Der Mann, auf dessen Treue sie gebauet hatte, der Mann, den sie so zärtlich liebte. Da nahete sich abermals ein Bewerber, ein Mann, der weiter keinen Vorzug besaß, als ein großes Vermögen. Das getäuschte Herz des armen Fräuleins war der Liebe für immer verschlossen, es konnte ein Glück in dieser Beziehung nicht mehr erwarten; aber um wenigstens nicht dem Elende anheim zu fallen, wenn sie nicht als Gouvernante dienen wollte, reichte sie dem Manne, den sie nicht lieben konnte, die Hand, und Emilie von Windheim ward die Freifrau von Erichsheim. Das Herz fand keine Befriedigung in dieser Ehe, wohl aber der Stolz – man suchte die Vergessene wieder auf, und die Gattin des Freiherrn von Erichsheim gehörte zu den ersten Damen. Bald jedoch sah sie ein, daß der Reichthum allein nicht glücklich macht; der Pein, einem Manne anzugehören, den sie kaum achten konnte, nachdem sie ihn näher kennen gelernt, gesellte sich eine Art Lebensüberdruß bei, und es ist wohl natürlich, daß in der Brust einer Frau, die Anwartschaft auf das höchste Lebensglück gehabt, der Haß gegen den Urheber ihrer traurigen Lage erwachte. Und dabei war ich gezwungen, vor der Welt glücklich zu erscheinen, wenn ich nicht lächerlich werden wollte. Diesem Scheine glaubte auch der Oberst, wenn wir uns in Gesellschaften trafen, die ich nicht umgehen konnte. Zwischen ihm und meinem Manne entspann sich ein freundschaftliches Verhältniß. Der Oberst ward der Pathe meines ältesten Sohnes, und ich hob ein Jahr später seine erste Tochter aus der Taufe, welche die Namen Emilie Cäsarine erhielt. Ich wies diese Annäherungen nicht zurück, da ich den Grund derselben kannte: mein Mann war reich, und der General hatte seinem Schwiegersohne nicht einen Thaler hinterlassen. Mit Freude machte ich die Bemerkung, wie der stolze Oberst, der ein großes Haus führen mußte, immer tiefer in die Schuld meines Mannes gerieth, der es in seiner Habsucht nicht verschmähete, Geld zu hohen Zinsen auszuleihen. Die Zeit verfloß, und ich muß meine Schwäche bekennen, daß durch die gegenseitige Annäherung meine erste Neigung wieder erwachte, ein Umstand, der die Pein meiner Situation erhöhete. Da starb die Gattin des Obersten, indem sie der Welt eine zweite Tochter schenkte. Der Gedanke, der Mann meiner ersten Liebe ist frei von allen Fesseln, brachte mich unwillkürlich in eine Aufregung, die ich vergebens zu bemeistern mich bestrebte. Jahre lang suchte ich sie zu bekämpfen – umsonst, die Fesseln meiner unglücklichen Ehe wurden stets drückender, und mein Mann wurde mir eine verhaßte Last. Das Gefühl der Liebe war in der gereiften Frau mit neuer Heftigkeit erwacht, und in in meinem verwirrten Geiste fliegen Hoffnungen auf ein Glück empor, das mich vor Wonne schaudern machte. Um diese Zeit trieb der geizige Freiherr seine ausstehenden Kapitalien ein, und auch der Oberst wurde angegriffen, dessen Ehre dabei auf dem Spiele stand. Ich empfand das Bedürfniß ihn zu retten, und brachte die Heirath unserer Kinder zu Stande; die verhängnißvollen Papiere blieben fest verschlossen, und ich ging selbst so weit, einen Ehrenschein

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