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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

seinem Sterbebette gefertigt hat. Dieses Papier nun hat der junge Baron von Nienstedt in dem Vorzimmer der Freifrau von Erichsheim verloren. Das Gericht lehnte die Untersuchung ab, da der Beweis ungenügend war, aber vorgestern lieferte man neue Beweise, die unumstößlich sind und das Einschreiten des Gerichts erfordern. Die vor Zeiten erfolgte heimliche Entfernung des jungen Barons vermehrt den Verdacht, und man vermuthet, daß jene entwendeten Papiere den Grund zu seinem enormen Vermögen gelegt haben. Hat Bosheit eine Anklage erhoben, oder erwacht die rächende Nemesis – die Untersuchung wird es lehren, Suchen Sie sich zu wahren, eine Deputation des Gerichts ist bereits abgegangen.“

Einen Augenblick saß Ludwig und starrte den Freund mit großen Augen an; es schien, als ob er das Furchtbare dieser Anklage nicht erfassen könnte. Dann sprang er plötzlich auf, eilte zu einem Secretär, und riß mit bebenden Händen ein geheimes Fach auf. In demselben Momente stieß er einen durchdringenden Schrei aus.

„Was ist das? Was ist das? Gerechter Gott, man hat mich beraubt!“

Unter krampfhaftem Zittern sank er auf einem Stuhle nieder, während seine starren Blicke nach dem leeren Kasten gerichtet blieben.

Heiligenstein war zur Bildsäule erstarrt, er konnte weder eine Bewegung ausführen noch ein Wort äußern. Bot Ludwig selbst in dieser Verfassung nicht den unumstößlichen Beweis seiner Schuld? Der brave, großmüthige Mann, den Alle liebten und achteten, war plötzlich von der Höhe seines Glücks herabgesunken, es streckten Schmach und Schande ihre furchtbaren Arme nach ihm aus. Aber nicht er allein stand an dem jähen Rande dieses scheußlichen Abgrundes, auch Henriette und der greise Oberst mußten mit ihm hinabstürzen. Eine fürchterliche Minute verfloß. Heiligenstein hatte nicht den Muth, an die gräßlichen Folgen zu denken, die dieses Vergehen nach sich ziehen mußte. Aber Ludwig gewann zuerst die Fassung wieder; er erhob sich und suchte noch einmal in dem Secretär. Dann sagte er kalt und mit tonloser Stimme:

„Man hat mich bestohlen, um mich zu verderben! Mein Glück war ja zu groß, als daß es ohne Anfechtung bleiben konnte!“

„Ludwig, so sind Sie wirklich im Besitze dieser verhängnißvollen Papiere gewesen?“ fragte Heiligenstein.

„Man hatte sie mir anvertraut, ich habe sie bewahrt, ohne ihre Bedeutung zu kennen.“

„Wer, wer hat sie Ihnen anvertraut? O, zögern Sie nicht, den Mann zu nennen, Sie werfen einen furchtbaren Verdacht von sich ab!“

„Ich kann, ich darf ihn nicht nennen,“ antwortete fest der Baron. „Es binden mich Rücksichten, die ich nie im Leben außer Acht lassen darf.“

„Unglücklicher, Unglücklicher!“ rief Heiligenstein, als er die furchtbare Ruhe des jungen Mannes sah. „Haben Sie nicht ernstere, wichtigere Rücksichten zu nehmen? Sie sind Gatte und Vater!“

Ludwig zuckte krampfhaft zusammen, sein Gesicht ward leichenblaß. Plötzlich raffte er sich zusammnen und warf sich an die Brust des Freundes.

„Ludwig,“ begann Heiligenstein gerührt, „ein furchtbares Schicksal ereilt Sie, denn Sie sollen als Mann ein Vergehen büßen, dessen Sie sich als unbesonnener, übermüthiger Jüngling schuldig gemacht. Der Blick des Freundes erfaßt vollkommen die Lage der Dinge, und er beurtheilt Sie mit der Milde, auf die Sie durch Ihre jüngste Vergangenheit gerechte Ansprüche haben. Aber die Gesetze urtheilen nicht wie der Freund, sie lassen die Großmuth nicht gelten, mit der Sie eine Jugendsünde vergessen machen wollten. Ludwig, bekennen Sie mir offen, was geschehen, verhehlen Sie mir Nichts, denn nur in diesem Falle kann ich mit Ihnen die Mittel berathen, die zur Abwehr des Unglücks nöthig sind. Ich fürchte nicht, mich zu Ihrem Mitwisser, und dadurch vielleicht auch zu Ihrem Mitschuldigen zu machen, denn ich erachte es für Pflicht, die Ehre der Nienstedt’s zu retten. Sie sind der Bruder meiner Adelheid, und was ich Ihnen thue, thue ich ihr. In diesem Vorsatze bestärkt mich die Ueberzeugung, daß die Erichsheim’s nur von einer niedern Rache geleitet werden; man richtet die Schläge auf Sie, um den braven Obersten und Henrietten zu treffen. Ludwig, Sie schweigen immer noch? Denken Sie an Ihre Gattin, denken Sie an Ihr Kind!“

„Meine Gattin! Mein Kind!“ rief der junge Mann verzweiflungsvoll.

„Zögern Sie nicht, theilen Sie mir Alles mit, es könnte morgen schon zu spät sein.“

Der Baron ergriff die Hand Heiligenstein’s und sagte feierlich:

„Ich habe Ihnen nur zu bekennen, daß auf meiner Seele kein Vorwurf lastet. Halten Sie mein Schweigen nicht für Mangel an Vertrauen, ich kann, ich darf Nichts mehr sagen, glauben Sie mir, ich darf nicht, weil Henriette meine Gattin ist.“

„Und mit dieser einfachen Behauptung Ihrer Unschuld glauben Sie den Verdacht zu entkräften? Sie bekennen, daß Sie in dem Besitze der Papiere gewesen –“

„Ich habe es bekannt?“ rief der Baron auffahrend.

Heiligenstein deutete auf den leeren Kasten des Secretärs.

„Dort suchten Sie in fieberhafter Angst!“ sagte er.

Ludwig schob den Kasten zu und schloß heftig den Secretär.

„Dann habe ich es nur Ihnen, hören Sie, nur Ihnen bekannt! O, Sie sind mein Freund,“ fügte er zitternd und mit wirren Blicken hinzu, „Sie werden mich nicht verrathen! Meine Feinde haben einen unsicheren Weg betreten, sie haben nicht bedacht, daß sie durch einen Diebstahl sich in den Besitz der Papiere gesetzt, die mich verderben sollen. Ich weiß nichts von den Papieren, ich kenne sie nicht, ich habe sie nie gesehen! Wollen Sie mein Glück, Heiligenstein, so verschweigen Sie diese Unterredung; es muß jeder Verdacht an meinem Stande, an der Achtung, die ich genieße, zerschellen.“

Den größten Theil der Nacht brachten die Freunde im Gespräche zu. Der Baron gerieht in eine Geistesverfassung, die Heiligenstein erzittern machte. Bald saß er ruhig und in sich gekehrt auf dem Sopha, bald durchsuchte er die Kästen seines Schreibtisches und seines Secretärs, bald wollte er Bob und die übrigen Diener rufen, um ein Verhör anzustellen. Heiligenstein, der selbst, rathlos war, verhinderte Alles, was einen neuen Mitwisser herbeiziehen konnte. Gegen morgen ward Ludwig von einem heftigen Fieber ergriffen; seine Kräfte waren erschöpft, er erlag dem Kampfe, der sich in seinem Innern erhoben. Heiligenstein rief den Kammerdiener, der im Vorzimmer auf einem Stuhle saß und schlief.

„Dein Herr ist krank,“ sagte er, „bringe ihn zu Bett!“

Der Mulatte entkleidete den Baron und brachte ihn zu Bett. Heiligenstein ging in dem Zimmer auf und ab. Da die Thür des Schlafgemachs nur angelehnt war, konnte er folgendes Gespräch hören, das Herr und Diener führten.

„Bob,“ sagte Ludwig leise, dessen Stimme vor Fieberfrost bebte, „hast Du mich verrathen? Hast Du das Geheimniß ausgeplaudert, das Du mit Dir in das Grab zu nehmen geschworen?“

„Herr, wie kommen Sie auf diese Vermuthung?“ rief Bob.

„O, sagen Sie mir, was geschehen ist!“

„Man hat mir wichtige Papiere entwendet, die Papiere Deines frühern Herrn. Du warst stets in meiner Nähe – hegst Du keinen Verdacht?“

„Nein, Herr!“

„Bob, Du kennst mich, glaubst Du, daß ich ein Verbrechen begehen könne?“

„Herr, wer wagt es, Sie zu beschuldigen?“ rief auffahrend der Mulatte.

„Leise, leise, mein Freund, es darf uns Niemand hören! Die Papiere, die mir gestohlen sind, klagen mich an. Sie beweisen, daß der Besitzer derselben ein Verbrecher ist. Du weißt, daß ich Feinde habe, und diese benutzen die Papiere, um mich zu verderben.“

„Beruhigen Sie sich, lieber Herr, noch bin ich da, um Ihnen als Zeuge zu dienen. Ich weiß, daß Sie nicht –“

„Um Gottes willen, sprich dieses Wort nicht aus!“ rief hastig der Baron. „Bob, denke an Deinen Schwur!“

Nach einer Pause flüsterte der Baron: „Laß mich ein wenig ruhen; gehe, wache im Hause und benachrichtige mich von Allem, was vorgeht.“

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_048.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2022)