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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Herr von Nienstedt. Ehren Sie mit mir sein Andenken, mein Herr, und weisen den Antrag nicht zurück!“ bat Ludwig mit weicher, flehender Stimme.

Der Oberst kämpfte einige Augenblicke mit sich selbst; dann ergriff er das Papier, das ihm der junge Mann bot, betrachtete die Zeilen und flüsterte:

„Es sind meine Schriftzüge! Ich schrieb sie vor sechzehn Jahren!“

Die Erinnerung schien mächtig jene Zeit heraufzubeschwören, denn das Papier erzitterte in der Hand des alten Herrn.

Während dieser Zeit war ihm Heiligenstein näher getreten.

„Herr Oberst,“ sagte er leise, „hören Sie auf den Rath eines Freundes: behalten Sie dieses Papier und vernichten Sie es!“

„Warum?“

„Der Freiherr von Erichsheim –“

„Er ist todt!“

„Aber seine Frau und seine Söhne leben –“

„Ich verstehe Sie nicht, mein Herr!“

„Warnen Sie den Obersten, waren die letzten Worte des verstorbenen Herrn von Nienstedt – ich mußte es ihm in seine kalte Hand versprechen, Glauben Sie mir, ich bin kein müßiger Zuschauer bei dieser Scene. Mit der Rückkehr des jungen Barons sind für mich Pflichten erwachsen, die ich zu erfüllen mich bestreben werde.“

Der Oberst wandte sich zu Ludwig:

„Wohlan, mein Herr, so nehme ich dieses Papier zurück; dessen ungeachtet aber ist die Verpflichtung nicht erloschen, die es mir auferlegt. Ich behalte mir ein Arrangement der Angelegenheit vor.“

Der junge Baron verneigte sich als ein Zeichen seiner Zustimmung.

„Herr von Heiligenstein“ sagte er dann, „mein Geschäft ist zu Ende – damit Sie das Ihrige beginnen können, ziehe ich mich zurück!“

Er verneigte sich vor dem Obersten und verließ hastig das Zimmer. Der Oberst sah erstaunt den Zurückbleibenden an.

„Herr Oberst,“ begann Heiligenstein, „ich setze voraus, daß Sie meine mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu den Nienstedt’s gekannt haben.“

„Ich erinnere mich, daß Sie mit einem Fräulein von Nienstedt verlobt waren – der Tod raubte Ihnen die Braut, mein Herr.“

„Aber Adelheid’s Vater betrachtete mich wie seinen Sohn. Demnach konnte es mir nicht fremd bleiben, daß der alte Freiherr von Erichsheim, ein Wucherer en gros, eine bedeutende Hypothek auf dem Gute Nienstedt hatte, und daß er es war, der auf den öffentlichen Verkauf drang. Der Tod ereilte ihn, und was er angefangen, setzte seine Familie fort. In diese Zeit fällt die Abreise des jungen Ludwig. Dann starb der alte Baron, und Sie, mein Herr, traten ein Jahr später den Besitz des Gutes an. Kurze Zeit darauf fand die Verlobung Ihrer ältesten Tochter mit dem ältesten Sohne der Freifrau von Erichsheim statt.“

„O, mein Herr,“ sagte schmerzlich der Oberst, „mein Freund von Nienstedt hat Ihnen sein Vertrauen geschenkt, ich kann mich nicht erwehren, Ihnen auch das meinige zu schenken. Ich war gezwungen, mein armes Kind einem herz- und gefühllosen Manne zu opfern. Die Wittwe von Erichsheim dringt jetzt auf ein Arrangement ihres Vermögens, und um die Hypothekschuld auf Nienstedt aus der Welt zu schaffen, hat sie mir eine Verheirathung unserer jüngsten Kinder vorgeschlagen.“

„Mein Herr, haben Sie Ihrem verstorbenen Freunde Nienstedt kein Versprechen zu erfüllen?“

„Die Abreise seines Sohnes und die ungünstigen Vermögensverhältnisse haben mich von diesem Versprechen entbunden.“

„Der junge Baron ist zurückgekehrt – er besitzt mehr als eine Million, sein Stammbaum ist makellos, und mehr noch, ich habe ihn als einen vortrefflichen Mann kennen gelernt. Herr Oberst, von den Verhältnissen, die wir jetzt berühren, ist ihm Nichts bekannt, er ahnt sie nicht einmal; aber er liebt Fräulein Henriette, und wenn er seinen Stand nicht sofort entdeckte, so geschah es aus Besorgniß, daß sein übereilter Jugendstreich ihm angerechnet werden möge. Ueberlassen Sie Ihrer Tochter die Wahl, Herr Oberst, und alle Ihre Bedenken werden beseitigt sein.“

Heiligenstein schilderte nun in begeisterten Worten die Liebe des jungen Mannes. Dem Obersten schien eine schwere Last vom Herzen genommen zu sein. Beide Männer verbrachten noch länger als eine halbe Stunde im eifrigen Gespräche. Nach Ablauf derselben hatte Heiligenstein die schwierige Angelegenheit so weit geordnet, daß der Oberst, und vorzüglich Ludwig zufrieden sein konnte.

Hinter dem Hotel, das der Oberst von Eppstein mit seiner Tochter bewohnte, dehnte sich ein weitläufiger Garten mit schattigen Laubgängen aus. Hier wollte Ludwig den Freund und Anwalt seiner Herzensangelegenheit erwarten. Seine Stimmung bedarf wohl kaum einer Beschreibung. Er wußte, daß Henriette ihn liebte, und nach der so eben stattgehabten Unterredung mit dem Obersten war ihm klar geworden, daß der Vater in Verhältnissen lebte, die ihn mehr als jede andere Rücksicht bestimmen mußten, der Neigung seiner Tochter kein Hinderniß entgegenzustellen. Und befand er sich nicht im Besitze aller der Mittel, die erforderlich waren, um den Obersten dem Einflusse der Erichsheim’s völlig zu entziehen? Er glaubte nicht mehr zweifeln zu dürfen, daß er noch heute das Ziel seiner Wünsche erreichen würde. Glühend vor Aufregung durchschweifte er die einsamen Gänge, die von den Kurgästen um diese Zeit, wo die Sonne heiß herniederbrannte, gemieden wurden.

Da trat ihm plötzlich Henriette’s Kammermädchen entgegen.

„Ich suche Sie, gnädiger Herr!“

„Zu welchem Zwecke?“ fragte Ludwig, der die ihm bekannte Botin wie eine glückbringende Erscheinung begrüßte.

„Fräulein Henriette trinkt jetzt in der Laube ihre Chocolate.“

„Bist Du beauftragt, mir diese Mittheilung zu machen?“

„Ja, mein Herr!“

„So nimm Deinen Botenlohn! Bemerkst Du, daß der Herr von Heiligenstein den Obersten verläßt, so benachrichtige mich davon.“

Er warf dem Mädchen seine Börse zu und verschwand zwischen zwei blühenden Hecken. Bald stand er vor einer kleinen, dicht beblätterten Lindenlaube. Als er leise die Zweige zurückbog, sah er Henrietten: sie saß in einem kleinen Sessel und las in einem Buche. Unter dem großen runden Strohhute mit den langen blauen Bändern quollen die schweren glänzenden Locken herab. Ein einfaches weißes Kleid schmiegte sich leicht den jugendlichen, eleganten Körperformen an. So reizend das Bild auch war, das sich dem entzückten Lauscher in der dunkelgrünen, duftigen Einfassung der Laube bot, so wenig Ruhe hatte Ludwig, um sich auch nur eine halbe Minute dem Beschauen desselben zu überlassen. Er trat in den stillen, dämmernden Raum und ließ sich schweigend vor seinem Ideale auf ein Knie nieder. Henriette streckte ihm hocherröthend die kleine Hand entgegen.

„Guten Morgen, mein lieber Freund!“ flüsterte sie, indem sie das Buch auf den Tisch warf. „Sie kommen von meinem Vater?“ fügte sie rasch hinzu.

„Ja, und ich glaube mich der Hoffnung hingehen zu dürfen, daß mein Glück von Ihrer Entscheidung allein abhängen wird. Der erste Schritt ist bereits geschehen, um den Einfluß unserer Feinde zu schwächen. Ihr edler Vater, Henriette, hat mir bewiesen, daß er für den verstorbenen Baron von Nienstedt noch eine wahre, innige Freundschaft hegt.“

„Sie kommen mit dem Herrn von Heiligenstein?“ fragte sie, als ob sie das Gespräch von diesem Punkte ablenken wollte.

„Er befindet sich noch jetzt bei dem Herrn Obersten, um das Werk zu vollenden, das ich so glücklich eingeleitet habe. Ach, Henriette, überlassen wir dem Freunde und dem Vater das Arrangement der materiellen Dinge, uns bleiben ja andere Gegenstände zu besprechen –“

„Sie haben Recht.“ flüsterte sie wie beruhigt. „Doch zuvor stehen Sie auf und nehmen Sie neben mir Platz.“

Er küßte ihre Hand, erhob sich und setzte sich auf einen Stuhl.

„Henriette,“ begann er mit schwankender Stimme, „daß in diesem Bade das Loos über mein Lebensglück geworfen werden würde, war mir klar, als ich das Glück der ersten Unterredung mit Ihnen gehabt. In diesem Augenblicke vielleicht fällt der eherne Würfel, und wenn ich mich auch einer frohen Hoffnung hingeben darf, so können dennoch Fälle eintreten, die der Erreichung meines Ziels Hindernisse entgegenstellen. Henriette, verzeihen Sie meiner Liebe den Kleinmuth –“

„Mein Gott, was fürchten Sie?“ fragte sie naiv überrascht. „Ich glaubte Hoffnung von Ihnen zu erhalten, und nun –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_035.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)