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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

ermüdet von Arbeit und Kampf, von Anstrengung des Geistes und Schöpfungsthätigkeit im Schooße der Familie Ruhe und Erholung suchte. Ein zahlreicher Freundeskreis umgab ihn, der ihn verehrte und ihm apostolisch folgte. Er hatte sich mit seinem Privatleben in das Hotel Ludwig’s XIII. zurückgezogen, wo er sich seine Wohnung, einem phantastischen Geschmacke folgend, mittelalterlich einrichtete.

Wie ihm seine Kinder eine Quelle der Lust, eine Quelle des Segens waren, so wurden sie ihm ohne ihr Verschulden Ursache tiefen bittern Leids. Das Erstgeborne, der Liebling der Mutter, starb in der ersten Blüthe der Jahre, von einer Krankheit hinweggerafft. Eine Tochter, neuvermählt, verunglückte bei einer Vergnügungswasserfahrt und war verloren. Was lockten diese Trauergeschichten für tiefe, wunderbare Töne aus der schmerzbewegten Brust des Poeten! Sollte ich überhaupt auf das Schöne und Schönste unter den lyrischen Gedichten von V. Hugo hinweisen, ich wüßte wahrhaftig nicht, wo anfangen und wo enden. Wer mag es entscheiden, ob seinen „Orientalen,“ ob seinen „Dämmerungen,“ seinen „innern Stimmen“ oder seinen „Herbstblättern“ ein Vorzug eingeräumt werden soll. Was weiß Hugo, wenn er seinem edeln Naturell folgt, Unglück und Armuth zu trösten, die Gesunkenen zu erheben, die Enterbten zu erfreuen, auf den Verstoßenen einen schönen, lachenden Himmel niederzuziehen. Was schwingt er Geißeln über Gemeinheit und Verrath? Was für Flüche weiß sein beredter Mund gegen Unrecht und Gewaltthat zu schleudern? Was hat er für die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle von den zartesten bis zu den gewaltigsten stets das rechte Wort, den rechten Ausdruck?

Ein Streben besonders geht mit ihm durch sein ganzes öffentliches Leben, und zwar ist es auf Abschaffung der Todesstrafe gerichtet. In Wort und Schrift, in Versen und Prosa, auf der Bühne, auf der Tribune im Gerichtssaal hat er nach dieser Richtung hin gewirkt, hat er an dieses Ziel hingearbeitet. Er war wirklich groß, als er seinen Sohn vertheidigte, der während der Präsidentschaft Louis Napoleon’s den Gedanken seines Vaters aufnehmend, die Gräuel bei Gelegenheit einer stattgefundenen Hinrichtung in dem „Evennement“ darstellte. „Die letzten Tage eines Verurtheilten,“ ein Meisterstück physiologischer Durchführung ist lediglich zu diesem Zweck verfaßt.

Als Barbès im Jahre 1839 von dem Gerichte Aufruhrs wegen zum Tode verurtheilt war, wandte sich die Schwester des bekannten Demokraten an unseren Dichter und bat ihn um sein Fürwort bei dem König Ludwig Philipp, der ihm sehr gewogen war. Die Bittende fand eine entgegenkommende Bereitwilligkeit. Der erste Versuch mißlang. Es war gerade um die Zeit als der Hof wegen der in blühender Jugend dahingeschiedenen Marie von Würtemberg in Trauer war, und zugleich der Graf von Paris, der Sohn der Herzogin von Orleans, das Licht der Welt erblickte. Hugo begab sich noch einmal, und zwar am 12. Juli um Mitternacht in die Tuillerien. Ihre Majestät war bereits zu Bette gegangen und für Niemanden mehr sichtbar. Der Dichter schrieb diese Strophe auf ein Blatt Papier, das er auf den Tisch im Vorzimmer des Königs legte:

Par votre ange envolée ainsi qu’une colombe!
Par ce royal enfant, doux et frèle roseau!
Grace encore une fois, grace au nom de la tombe,
Grace au nom du bérceau.


(Um des Engels willen, der wie eine Taube entflog,
Des königlichen Kindes willen, des zarten schwachen Sprossen.
Gnade, noch einmal Gnade im Namen des Grabes!
Gnade im Namen der Wiege.)

Der König las dieses als er erwachte und Barbès war gerettet.

Hugo ist mittlerer Größe und von einem stämmigen Körperbau, von stolzer, männlicher Haltung, sein Kopf ist schön und ausdrucksvoll. Dunkle Haare, die lang bis zum Nacken niederhängen, beschatten eine hohe mächtige Stirn, aber die Zeit und Arbeit haben beträchtliche Furchen gezogen. Das Auge liegt tief in den Höhlen und blickt klug und feurig hervor. In seinem ganzen Wesen giebt sich eine Art von schüchterner Zurückhaltung kund; aber in seinen Zügen drückt sich Kraft, Entschiedenheit und fester Wille aus. Die ganze Laufbahn des Dichters beweist, daß seine Züge wahrsprechen. Hinter den Coulissen des Theater Français erzählt man sich noch heute, mit welcher Würde und Unerschütterlichkeit der junge V. Hugo seiner Zeit der allgebietenden Mademoiselle Mars, der Königin der Bühne, dem Abgott des Publikums entgegengetreten, da sie dem Autor nach Art erster Heldinnen ihr Urtheil aufdringen wollte. Als bei den Proben von „Hernani“ die Stelle vorkam, welche Dona „Sol“ (Mars) zu sagen hat:

„Du bist mein stolzer, mein großmüthiger Löwe,“ meinte die berühmte Schauspielerin, daß „Löwe" auffallend klinge und daß es einfacher wäre, zu sagen:

„Du bist mein stolzer, mein großmüthiger Herr.“

„So habe ich es gedichtet und so wünsche ich, daß es gesprochen werde, Madame,“ versetzte Hugo kurz und bestimmt.

„Das Publikum wird bei diesem Ausdruck zischen,“ meinte die Schauspielerin.

„Das steht dem Publikum frei,“ versetzte der Dichter; „aber Sie wollte ich gebeten haben, daß Sie die Probe nicht weiter unterbrechen.“

Ein ander Mal als Angelo einstudirt wurde, gefiel es Fräulein Mars, einer Kameradin, mit der sie zu spielen hatte, die schönsten Effekte wegzuhaschen, indem sie ihr die Gegenrede schuldig blieb oder durch ihre Haltung störend einwirkte.

„Bitte, seien Sie doch freundlicher gegen Ihre Kunstgenossin,“ verwies sehr sanft der Verfasser.

„Es ist ja nicht meine Schuld, Monsieur,“ erwiederte Fräulein Mars, „wenn Madame die Sachen verkehrt spielt.“

„Sie verderben ihr absichtlich die Situation, in welcher sie glänzend hervortreten könnte.“

„Ich stelle dar, was ich sein soll.“

„Nun denn, wenn es nicht anders geht, Madame, wollen Sie mir gefälligst Ihre Rolle zurückstellen?“

Mademoiselle Mars gerieth außer sich. Und ringsum erstarrten Alle, die das Wort an die Königin der Bühne gerichtet vernahmen, erstaunt über das unerhörte Vermessen. Der Dichter beharrte bei seiner Forderung, und Fräulein Mars gab nach, indem sie fügsamer zu sein versprach.

Victor Hugo lebt nun auf der englischen Insel Jersey; aus dem Vaterlande gestoßen, ein Verbannter.

Aus dem begeisterten Legitimisten ist ein glühender Republikaner geworden; und die Regierung Louis Napoleon’s III. hat es für nützlich erachtet, sich des Poeten zu entledigen. Man hat vielfach die Verwandlung Hugo’s angefochten und sie als Abfall ausgelegt. Wir wollen bemerken, daß es für Ueberzeugungen keine Polizei giebt, der sie einen Reisepaß vorzeigen, auf dem amtlich angegeben ist, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ausgemacht ist es, daß sich bei Hugo die politische Umgestaltung schon während der Restauration, und noch hervortretender unter der Juliregierung kund gab. Ein Beweis unter vielen ist der, daß die Theatercensur Karl’s X. die Aufführung vor Marion Delorme verbot, und diese erst nach der dreißiger Revolution stattfinden konnte, weil Ludwig XIII. in dem Stücke nicht vortheilhaft genug gezeichnet ist. Und „Der König vergnügt sich“ wurde sogar unter Louis Philipp die Thüre zur Darstellung versperrt, weil in demselben die Majestät des Herrschers zu sehr preisgegeben ist. Zu einer eigentlichen Opposition, es wäre denn gegen die Todesstrafe, zum Bekenntniß einer festen abgeschlossenen Meinung, kam der Dichter erst als das Jahr 1848 aus dem Pair von Frankreich, zu dem ihn Louis Philipp erhoben, einen Volksvertreter gemacht. Im Anfang seiner parlamentarischen Laufbahn unsicher, unschlüssig hin- und hertappend, bei verschiedenen Parteien anklopfend, schloß er sich zuletzt der Linken an und vertrat ihre Prinzipien mit der ihm eigenen Kraft, mit der ganzen Fülle seines Talents. Man konnte ihn, um seine Beredtsamkeit zu bezeichnen, den „Sturm der Tribune“ nennen. Er begeistert, er erschüttert, er reißt hin; allein er beweist nicht; seine Reden sind weit mehr lyrisch als logisch, voll Humanität, aber ohne alle Staatswissenschaft. In den Decembertagen des Jahres 1851, wo der Staatsstreich die festgestellte Ordnung der Dinge umgeworfen, hat Hugo glänzende Beispiele von Entschlossenheit und persönlichem Muth gegeben. Er spielte auf den Boulevards du Temple kühn um sein Leben, indem er zum Widerstand gegen das Verfahren des Präsidenten der Republik laut aufforderte. Seinem tiefen, wie es scheint, unverlöschlichen Haß gegen Louis Napoleon hat er in der Verbannung durch zwei veröffentlichte Werke Luft gemacht. Das eine in Prosa ist: "Napoleon der Kleine,“ das andere in Versen:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_023.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2017)