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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Mir ist nicht bekannt, daß man über ihre Zukunft entschieden hat.“

Eine Gruppe Herren und Damen trat auf den Balcon und unterbrach das Gespräch der beiden Männer. Sie gingen in den Saal zurück. Heiligenstein stellte seinen Freund einigen Edelleuten vor, die den seligen Herrn von Nienstedt gekannt und geschätzt hatten. Ludwig hatte die Freude, die Achtung auf sich übertragen zu sehen, die man seinem Vater gezollt hatte. Der schöne und reiche junge Mann – Heiligenstein hatte nicht verfehlt, Andeutungen über seinen Reichthum zu geben – erregte das allgemeine Interesse. So verfloß noch eine halbe Stunde, und der letzte Tanz vor dem Walzer war vorüber. Ludwig suchte Henrietten mit den Blicken auf. Sie saß in einem Kreise älterer und jüngerer Damen. Wie reizend war das junge Mädchen in dieser Umgebung, die nur eine Folie ihrer Schönheit zu sein schien. Lächelnd und ungezwungen unterhielt sie sich mit ihrer nächsten Nachbarin, einer vielleicht sechzigjährigen Dame von stolzem, aristokratischen Aeußern. Es war ersichtlich, daß diese Dame es sich angelegen sein ließ, Henrietten durch eine Unterhaltung zu fesseln. Da trat plötzlich der Oberst mit einem blonden, jungen Manne heran, den er, indem er seine Hand ergriff, seiner Tochter vorstellte. Henriette erhob sich und grüßte durch eine graziöse Verneigung. Aber dem Baron, dessen Blick eine furchtbare Eifersucht schärfte, entging es nicht, daß Henriette’s Gesicht plötzlich eine dunkele Röthe überzog, während der Vater freundlich zu ihr sprach.

„Wer ist der junge Mann?“ fragte Ludwig leise den Freund, der neben ihm stand.

Heiligenstein hatte ebenfalls die Gruppe in’s Auge gefaßt.

„Er ist der Sohn der alten Dame, die neben Fräulein von Eppstein sitzt,“ war die Antwort.

„Und die alte Dame?“

„Eine Freifrau von Erichsheim, die Mutter des Gemahls Emiliens, der Schwester Henriette’s. Der junge Mann lebt bei seiner Mutter, die Wittwe ist, auf dem großen Gute Erichsheim, nicht weit von hier. Er hat vor einem Jahre seine Studien auf der Universität beendet. Er muß heute erst angekommen sein, denn ich habe ihn bis jetzt im Bade noch nicht gesehen. Der Oberst selbst führt ihn seiner Tochter zu. Es ist dies erklärlich, da die beiden Familien verwandt sind.“

In diesem Augenblicke trat der Oberst zurück und unterhielt die Freifrau, die sich erhoben hatte. Henriette und der junge Mann unterhielten sich allein.

Ludwig’s peinlicher Zustand läßt sich nicht beschreiben. Er liebte mit der ganzen Glut der ersten Leidenschaft, mit der Leidenschaftlichkeit seines Charakters. Er beneidete einen Augenblick den blonden jungen Mann mit dem hübschen, aber einfältigen Gesichte, daß es ihm vergönnt war, zwanglos mit der Abgöttin seines Lebens zu sprechen, und, wie er in diesem Augenblicke wirklich that, ihr die Hand zu küssen. Er zitterte am ganzen Körper und alle seine Pulse klopften heftig. Da begann das Orchester den Walzer, zu dem Henriette ihn durch den Brief engagirt hatte. Die Töne erklangen ihm wie Sphärenmusik, denn sie gaben ihm das Recht, eine Unterredung zu unterbrechen, die sein Herz zerriß, obgleich er sie nicht einmal kannte. Raschen Schrittes ging er durch den Saal, näherte sich der Gruppe, und bat Henriette um den Tanz. Sie zuckte einen Moment wie vom Blitze getroffen zusammen, aber mit dem feinen Takt der gebildeten Dame verbarg sie ihre Ueberraschung, indem sie sich lächelnd zu dem jungen Freiherrn von Erichsheim wandte:

„Sie beklagen, daß Sie mich noch nicht tanzen gesehen – ich freue mich, daß sich Ihnen jetzt die Gelegenheit bietet. Seien Sie nicht ein zu strenger Kritiker, mein Herr, vielleicht rechtfertige ich die Erwartungen, die Sie von meiner Tanzkunst hegen.“

Sie legte ihren reizenden Arm in den Ludwig’s, und beide traten in die sich bildende Reihe der Tänzer. Aller Blicke folgten dem schönen Paare als es durch den Saal schwebte. In wenig Minuten war der Baron Ludwig von Nienstedt der Gegenstand des allgemeinen Gesprächs. Die Damen fanden ihn schön, und die Männer, die nicht tanzten, traten zu dem Herrn von Heiligenstein, um sich näher nach dem eleganten Cavalier zu erkundigen, da sie gesehen, daß er sich lange mit ihm unterhalten hatte.

Die erste Tour war vorüber, und Ludwig trat mit seiner Tänzerin unter die Zweige eines blühenden, großen Oleanders, der in einem zierlichen Kübel neben einer Säule des Saales stand. Er fühlte, wie der Arm Henriette’s in dem seinigen brannte, wie sie leise zitterte und wie der warme duftige Hauch ihres Mundes sanft sein Gesicht streifte. Ihm fehlte fast der Muth einen Blick auf die Abgöttin seiner Seele zu werfen.

„Vorsicht!“ flüsterte sie. „Mein Vater, die Freifrau und ihr Sohn beobachten uns scharf.“

„Wer ist der junge Mann?“ fragte Ludwig so unbefangen als es ihm möglich war.

Er hätte gern die Frage anders gestellt, aber es fehlte ihm die ruhige Ueberlegung dazu.

„Der Schwager meiner ältern Schwester Emilie,“ antwortete Henriette so leise, daß es der Baron kaum verstehen konnte.

„Ich bitte, eröffnen Sie mir kurz, was Sie dem Briefe nicht anvertrauen konnten.“

„Mein Gott, wir sind von allen Seiten beobachtet!“

„Aber man hört uns nicht, und wir sind um so sicherer, da die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns gerichtet ist.“

„Seit vier Tagen erwarteten wir den jungen Freiherrn. Eine Zusammenkunft mit ihm und seiner Mutter ist der Zweck unserer Badereise.“

„Henriette, ich beschwöre Sie, verhehlen Sie mir Nichts!“

„Sie sehen meine Angst, mein Herr!“ flüsterte sie, indem sie sich zitternd mit dem kleinen Elfenbeinfächer frische Luft zufächelte.

„Verbannen Sie die Angst, und fassen Sie unbedingtes Zutrauen zu mir. Unsere Lage ist so eigenthümlich, daß es gerechtfertigt erscheint, wenn wir die gewöhnlichen Schranken kleinlicher Decenz nicht berücksichtigen. Henriette, ich schwöre Ihnen bei Gott, der uns sieht und hört, Sie werden nicht gezwungen sein, einen Schritt zurückzuweichen, wenn Ihr Herz den Weg billigt, den Sie zu meinem Glücke betreten haben.“

„Ich fürchte leider, daß ich schon zu weit gegangen bin!“

„Wie, Henriette!“

„In einer fürchterlichen Angst habe ich diesen Abend erwartet.“

„Weil Sie besorgten, ich würde nicht unter den Gästen sein?“

„Ja, mein Herr!“ flüsterte sie aus beklommener Brust.

„O, nun weiß ich Alles! Die Macht des Vorurtheils –“

„Vorurtheile sind mir fremd – aber mein Vater, den ich zärtlich liebe, der mit Leib und Seele an seinem Stande hängt, dessen Liebe ich nicht verscherzen möchte, der unglücklich werden würde – –“

„Henriette, ich bin der Baron Ludwig von Nienstedt!“

Sie zuckte zusammen.

„Tanzen Sie, mein Herr, die Reihe ist an uns!“ flüsterte sie ängstlich.

Der Baron raffte sich zusammen. Das schöne Paar schwebte im langsamen Walzer durch den Saal. Der Takt des ruhigen, gemessenen deutschen Tanzes paßte wenig zu der Aufregung, in der sich die beiden Tanzenden befanden; die raschen Schwingungen eines Galopps wären angemessener gewesen. Nach zwei Minuten war es dem Baron wieder gestattet, mit seiner Dame zu ruhen.

„Herr Baron,“ fragte Henriette, „warum haben Sie so lange Ihren Namen und Stand verschwiegen? Warum treten Sie als einfacher Kaufmann auf, während Sie das Recht hatten –“

„Nennen Sie mich einen Sonderling, mein liebes Fräulein; aber ich konnte es nicht über mich gewinnen, mir durch den Geburtsadel Ansehen zu verschaffen. O, wie glücklich macht mich der Gedanke, daß es mir, so lange ich der schlichte Kaufmann war, gelungen ist, Ihnen einiges Interesse abzugewinnen.“

„Leider muß ich Vorurtheilen huldigen, die mein Verstand verwirft; und dennoch hätte ich die Richtung meines Gefühls beklagen müssen, wäre es mir nicht vergönnt gewesen, die Pflichten der Tochter damit zu vereinbaren.“

„O, ich verstehe Sie, Henriette! Und was fordern Sie nun, das ich thue?“

„Dem Baron von Nienstedt kann es nicht schwer fallen, mit dem Freiherrn Ignaz von Erichsheim in die Schranken zu treten, zumal da Letzterer Nichts für sich hat, als ein Heirathsproject der alten geizigen Freifrau, die eine Ehe unter Edelleuten wie ein Geschäft betrachtet, bei dem die Stimme des Herzens ohne Einfluß ist. Sie will unser beiderseitiges Vermögen verheirathen. Bis jetzt habe ich nicht gewagt, dem Plane meines Vaters zu widersprechen – –“

„Aber nun, Henriette?“ fragte Ludwig zitternd.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_019.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)