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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 1. 1856.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Vorurtheile.




I.

Im Jahre 1850 schien die Saison in dem Bade P. eben nicht glänzend werden zu wollen. Es war schon um die Mitte des Monats Juli, und die Kurliste wies nur erst fünfhundert und einige Namen auf, während sie in den Jahren zuvor eben so viel tausend enthalten hatte. Aber was der Badegesellschaft in diesem Jahre an der Quantität abging, ward ihr durch die Qualität ersetzt; so meinte wenigstens der Baron von Masset, einer der Tonangeber in der feinen Gesellschaft, die fast nur aus den adeligen Familien der nähern und fernern Umgegend des Bades bestand. Die reiche Bourgeoisie aus Hamburg, Bremen und den größeren Städten des nördlichen Deutschlands war gering vertreten, man schrieb diesen Umstand den Folgen der Revolution von 1848 zu, das heißt dem immer noch stockenden Verkehre. Die Hausbesitzer des Dorfes harrten vergebens auf ihre sonst so regelmäßig wiederkehrenden Kurgäste, ihre freundlich und bequem eingerichteten Zimmer blieben größtentheils ohne Miethsbewohner. Der reiche Adel bewohnte die zahlreichen Hotels des Orts.

Gegen zehn Uhr Morgens betrat ein junger Mann seine Wohnung in einem freundlichen, unweit der großen Allee gelegenen Hause. Er hatte einen Spaziergang durch die Berge gemacht, und warf sich ermüdet in den Sopha.

Werfen wir einen Blick auf den Bewohner des mit einfacher Eleganz ausgestatteten Zimmers. Er war von schlanker Gestalt und mochte sieben bis achtundzwanzig Jahre zählen. Sein Gesicht war stärker von der Sonne gebräunt, als es sich nach der Mode für einen Kurgast schickt; trotzdem aber war es schön, und man hätte sagen können, daß der bräunliche Teint seine Schönheit männlicher machte, die bei einem zarten Weiß weiblich zu nennen gewesen wäre. Das sorgfältig frisirte Haar war glänzend schwarz, ebenso auch der zwar nicht starke, aber natürlich gekräuselte Bart, der das interessante ovale Gesicht einrahmte. Ueber seinen schwellenden Lippen, durch die schneeweiße Zähne schimmerten, zeigte sich ein geschweifter Schnurrbart. Das dunkelbraune Auge war groß und lebhaft. Die Stirn, die schöne dunkele Brauen begrenzten, war hoch und frei. Die Toilette des jungen Mannes war elegant und gewählt. An seinem feinen Brusthemde glänzten kostbare Diamantknöpfe und an den Fingern nicht minder kostbare Ringe.

Still und nachdenkend saß er in seinem Sopha; seine kleine aristokratische Hand spielte mit der goldenen Uhrkette, die über die weiße Weste hinabhing.

Da klopfte es leise an die Thür. Der junge Mann schrak ein wenig zusammen, aber ohne Zögern forderte er mit lauter, wohlklingender Stimme zum Eintreten auf. Die Thür öffnete sich, und die Wirthin des Hauses, eine Frau von vielleicht vierzig Jahren, trat ein.

„Madame Bühl!“ sagte der Bewohner des Zimmers, als ob er eine andere Person erwartet hätte.

„Ich bin es, Herr Ludwig!“ sagte die freundliche und elegant gekleidete Frau mit der Artigkeit und Gewandtheit, die sie sich durch den langen Umgang mit Kurgästen erworben hatte. „Verzeihung, wenn ich störe.“

„Was bringen Sie mir?“

Madame Bühl zog lächelnd einen Brief aus der Tasche ihrer kleinen Taffetschürze.

„Ein Briefchen, Herr Ludwig!“

„An mich?“

„An Sie!“ antwortete die artige Frau, indem sie mit einer zierlichen Verbeugung das Papier überreichte. „Als die Ueberbringerin, eine Art Kammerzofe, hörte, daß Sie nicht zu Hause seien, band sie mir auf die Seele, den Brief Ihnen selbst zu überreichen. Ich verfehle nicht, meine Pflicht zu erfüllen.“

Der junge Mann hatte hastig den Brief erbrochen, und las ihn mit großer Begierde, ohne sich um Madame Bühl zu kümmern, die zu dem Fenster getreten war, und eine Marquise herabließ, um das Zimmer vor der Sonne zu schützen. Dabei aber warf sie einen neugierigen Blick auf den Leser, dessen Gesicht eine freudige Ueberraschung verrieth. Die braunen Wangen desselben errötheten, und Madame Bühl glaubte sogar zu bemerken, daß seine Hände ein wenig zitterten.

„Vielleicht bin ich dem Geheimnisse auf der Spur, das mein Gast so sorgfältig und hartnäckig zu bewahren sucht!“ dachte die kleine Frau, indem sie eine Blumenvase ordnete. „Ich bleibe dabei, er hat ein Geheimniß, und wenn mich nicht Alles täuscht, ein zartes Geheimniß.“

Der junge Mann hatte indeß das Billet sorgfältig zusammengelegt, und in die Brusttasche seines Rockes gesteckt. In einer frohen Bewegung, die unzweifelhaft der Brief erzeugt, ging er einige Mal im Zimmer auf und ab. Madame Bühl unterbrach das Schweigen, als sie sah, daß ihr Gast keine Neigung zum Reden zeigte.

„Mein Herr, ich erlaube mir eine Bitte an Sie zu richten aber ich setze dabei voraus,“ fügte sie sehr artig hinzu, „daß mein verehrter Gast mich nicht mißverstehen wird.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_001.jpg&oldid=- (Version vom 20.2.2021)