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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

der Disciplin. Das tägliche Essen, ein Pfund gekochten Rindfleisches nebst Bouillon mit Reis oder Graupen und Kartoffeln und 11/2 Pfund Schwarzbrot, wurde von den Meisten sehr gelobt, und man kann auch gewiß dreist annehmen, daß eine große Zahl von Handarbeitern in Deutschland eine so gute Nahrung nicht genießt. Jene Behaglichkeit der Menge konnte indessen von den einzelnen gebildeten Elementen leider nicht getheilt werden. Wer dergleichen mit eigenen Augen gesehen und mit eignen Ohren gehört hat, macht sich von der allüberall sich breit machenden Gemeinheit keinen Begriff. Ich spreche hier nicht von der Gemeinheit des Charakters, sondern von jener Gemeinheit der Sitten, welche stets im Schmutze umherwühlend, ohne Zotenreißen nicht existiren kann, und stets die ekelhaftesten Worte und Redensarten im Munde führt. Deshalb glaube man aber ja nicht, daß nur der Auswurf des deutschen Volkes eine Zufluchtsstätte in der britischen Fremdenlegion gefunden. Im Gegentheile, wenn auch einzelne Subjekte sich darunter befinden, welche vielleicht besser einen Platz im Zuchthause einnähmen, die bei weitem größere Mehrzahl sind eben solche Leute, wie man sie zu Dutzenden täglich auf den Landstraßen, in den Herbergen und Werkstätten Deutschlands finden kann.

Höchst widerwärtig muß es auch der Gebildete finden, daß diese Leute von der kuriosen Idee beseelt sind, alle Soldaten, welche nicht avancirt sind, mit Du anreden zu müssen, einerlei, ob, wo und wie sie dieselben früher je gesehen, ob sie mit ihnen auf einem freundschaftlichen Fuße stehen oder im heftigsten Zanke begriffen sind. Es fällt einem schwer, die Anrede mit „Sie“, welche man ja Jedem, den man nicht näher kennt, gern zu Theil werden läßt, für sich selbst zu behaupten. Diese Leute glauben sich unter einander „Du“ nennen zu müssen, weil Keiner von ihnen mehr sei, als der Andere; auch von den Vorgesetzten, welche vorschriftsmäßig die Gemeinen mit „Sie“ anreden müssen, lassen sich die Meisten ganz ruhig mit „Du“ anreden, „weil jene mehr seien.“

Weshalb lassen sich die Franzosen und Engländer, welche mit unsern Soldaten in Parallele stehen, nicht mit tu oder thou anreden? Es rührt dies einfach daher, daß jene den Deutschen gegenüber mehr Selbstgefühl haben – eine natürliche Folge ihrer politischen und socialen Institutionen. Jenes Selbstgefühl fehlt den untern Klassen der Bevölkerung Deutschlands ganz und gar; wenn sie nur gut, d. h. genug zu essen haben, so lassen sie sich ruhig mit „Du“ anreden, und wenn sie einen Schnaps bekommen, so lassen sie sich auch zur Noth dafür prügeln. Und doch sind jene Leute dieselben, aus denen der Handwerkerstand, der ja mit den Kern der Nation bilden soll, hervorgeht. Wer das Selbstgefühl in den untern Schichten der deutschen Nation wecken könnte, würde sich um die politische und sociale Zukunft Deutschlands das größte Verdienst erwerben.[1]

Mein Mißgeschick führte mich auf einige Tage in das Militärhospital. Ich hatte hier hinlänglich Gelegenheit, die geringe Meinung von dem englischen Feldspitalwesen, welche sich bei mir durch die Zeitungslectüre während des gegenwärtigen Krieges gebildet hatte, durch eigene Anschauung noch befestigen zu können. Ein einziger Punkt wäre vielleicht zu loben gewesen, die große Reinlichkeit, welche mindestens in dem Lazarethe herrschen sollte. Aber diese Reinlichkeit wurde nur zu sehr auf Kosten der Kranken hergestellt. Das angestellte Unterpersonal des Hospitals that gar nichts; die Kranken mußten das Lazareth, die Apotheke und noch verschiedene andere Räume täglich reinigen; gewiß ein im höchsten Grade unbilliges Verlangen. Als die Errichtung des zweiten Jägerregimentes begann, und die zu diesem Regimente gehörigen Aerzte, Regimentsarzt Dr. med. Steinau (früher Arzt im deutschen Hospitale zu London) und Assistenzarzt Dr. med. Schütz (aus Göttingen, als Arzt schon in schleswig-holsteinischen Militärdiensten) im Hospitale erschienen, wurde dies freilich etwas anders, indem eine Vermehrung des Unterpersonals eintrat. Der bei dem Depot als Oberstabsarzt fungirende Dr. Gammin ist ein Engländer, der kein Wort Deutsch versteht. Er sah nur danach, daß Schmutz und überflüssige Sachen (zu welchen alle nicht unbedingt nothwendigen gezählt wurden) nicht im Hospitale zu finden waren. Sein Assistenzarzt, Dr. med. Siemensen, ist ein geborener Helgoländer. Die Aerzte sind in der Wahl der Heilmittel sehr beschränkt; manche der in Deutschland allergewöhnlichsten fehlen in den englischen Feldapotheken. Dr. Steinau, welcher anfänglich seine Hülfskräfte zu überschätzen schien, verordnete eines Tags, daß einem Kranken Blutegel gesetzt werden sollten; er bekam aber von dem Hospitalsergeanten (der zugleich Feldapotheker ist, obwohl er von der Pharmacie nichts versteht) die Antwort, daß Blutegel nicht vorhanden seien und den bestehenden Vorschriften gemäß von dem Hospitale auch nicht requirirt werden könnten. Dem armen Kranken blieb nun die Wahl, sich die ihm verordneten Blutegel auf eigene Kosten zu verschaffen oder auf dieselben ganz zu verzichten. Es klingt unglaublich, ist aber buchstäblich wahr. Charpie und Linnen waren die seltensten Artikel, und nur mit großer Mühe nach langem Bitten zu erhalten. Die wichtigste Rolle im Lazarethe spielte der lapis infernalis; über zu sparsames Beizen war gewiß nicht zu klagen. Die meisten Kranken hatten ihren Aufenthalt im Hospitale dem Umstande zu verdanken, daß sie auf ihrer Reise nach Helgoland zu lange in Hamburg verweilt und die dort in ihrer Weise genossenen Freuden des Lebens nunmehr abzubüßen hatten.

Desertionen kamen unter dem Militär auf Helgoland sehr selten vor, obwohl die Gelegenheit dazu Jedem, der im Besitz einiger Geldmittel sich befand, leicht geboten war. In der letzten Zeit meines Aufenthalts schien die Anwerbung nicht mehr so gut von Statten zu gehen als vorher; der Grund davon war aber nicht etwa darin zu suchen, daß die Lust unter die Fremdenlegion zu treten, auf deutschem Boden abgenommen, sondern vielmehr in der zeitweiligen Verminderung der Transportmittel vom Festlande ab nach Helgoland. Das Dampfschiff Helgoland, welches während der Badesaison wöchentlich drei Mal von Hamburg nach Helgoland fuhr, machte diese Tour im Monat October etwa wöchentlich nur einmal. Der englische Kriegsdampfer Otto, der gewöhnlich zwischen Hamburg und Cuxhaven kreuzte und fast allwöchentlich einen starken Transport frischer Leute nach Helgoland führte, hatte einen Leck bekommen und ging zur Reparatur nach England zurück. Endlich war gerade in der ersten Hälfte des October der Wind so stürmisch und die See so unruhig, daß die kleinen helgoländer Sloops nicht mehr wie sonst zwischen dem Continente und dem grünen Eilande hin- und herfahren konnten. Während meines Aufenthalts auf Helgoland wurden allwöchentlich etwa 100 Mann im Durchschnitt angeworben.

Endlich kam die Zeit unserer Einschiffung nach Shorncliff heran. Die meisten Soldaten trennten sich ungern von Helgoland; mit den Töchtern des Eilands waren von ihnen unzählige Liebschaften geschlossen; verschiedene Unteroffiziere hatten die kurze Zeit ihres dortigen Anfenthaltes sogar zur Eingehung von Ehebindnissen benutzt. Bei jedem Regimente dürfen sechs verheiratete Unteroffiziere sein, welche alsdann mit ihren Familien in besondern Baraken wohnen.

Am 14. October wurde der Rest des zweiten leichten Infanterieregiments (wobei ich selbst) und etwa 24 Mann Cavalleristen, welche in Helgoland angeworben waren, auf die Schraubenfregatte „Perseverance,“ welche jetzt desarmirt ist und nur als Transportschiff benutzt wird, eingeschifft. Die Perseverance kam von Libau, wo sie eine Anzahl gefangener Russen gegen englische Marinesoldaten, welche in russische Kriegsgefangenschaft gerathen waren, ausgewechselt hatte. Trotzdem die Einschiffung unter anscheinend schlechtem Wetter vor sich ging, war die Ueberfahrt doch eine sehr glückliche zu nennen. Nur sehr wenige Soldaten hatten von der Seekrankheit zu leiden. Schon am 19. Vormittags landeten wir zu Folkestone (vier englische Meilen östlich von Dover). Von dort marschirten wir in einer kleinen Stunde nach dem Lager zu Shorncliff, von wo uns der Generalmajor von Stutterheim mit den ersten acht Compagnien des Regiments unter klingendem Spiele entgegen gezogen war. Rasch bezogen wir hier die uns angewiesenen Baraken und richteten uns, wenn man dies anders so nennen kann, darin ein. Wenige Tage vor uns war das erste Jägerregiment unter Oberstlieutenant von Schröder eingeschifft, die Meinung der Leute schwankt darüber, ob nach Balaklava oder nach Constantinopel. Am 26. October folgte ihnen das erste leichte Infanterieregiment, welches hier gebildet ist und zum größten Theile aus Süddeutschen und Belgiern besteht. Dasselbe steht unter dem Befehle des Oberstlieutenants von Hake. Diese beiden Regimenter bilden die erste Brigade der britisch-deutschen Fremdenlegion unter dem Befehle des Brigadier Oberst Wooldridge. Gegenwärtig befinden sich noch hier das zweite leichte Infanterieregiment unter Oberstlieutenant


  1. Steht es mit dem Selbstgefühl in den obern Schichten in den meisten Fällen besser? Moralische Prügel nehmen sie mit derselben Ruhe hin, wie jene die Faustschläge.D. Red. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_627.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)