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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

nach ihrem Dafürhalten bei seiner ausgezeichneten Befähigung nicht entgehen konnten, waren außer sich über diesen verzweifelten Entschluß, sich in einem unbekannten Winkel der Normandie zu verbergen, und so sein Licht unter den Scheffel zu stellen.

„Die Sonne scheint überall,“ gab Cuvier lächelnd zur Antwort, und den andern Tag packte er seinen kleinen Reisekoffer und reiste nach der Normandie ab.

Es war dies im Juli 1788. Es ist eine eigenthümliche Wahrnehmung, daß gerade das, was bei gewöhnlichen Naturen verderbenbringend wirkt, bei großen Männern die entgegengesetzte Wirkung hat. Wäre Cuvier eine jener Altagsnaturen gewesen, die, herausgerissen aus ihrer Laufbahn, sich nun dem blinden Ungefähr überlassen und unrühmlich und unbekannt mit verfehltem Lebenszweck in irgend einem Winkel, einer Provinzialstadt verkümmern und zu Grunde gehen, so würden ohne Zweifel jene Umstände, die ihn zwei Mal aus seiner Laufbahn rissen, ihn demselben Ende entgegengeführt haben. Aber das Talent, der Genius bricht sich immer Bahn. In dem einsamen Schloß der Normandie am Meeresstrand vollendete Cuvier seine Bildung, zu der er den Grund in Mömpelgard und Stuttgart gelegt. Er sammelte am Ufer Mollusken und studirte ihre anatomischen Verhältnisse, und mehrere Mammuthsknochen, die man in der Nähe von Fécamp ausgrub, erweckten in ihm die Idee, eine Vergleichung der fossilen Knochen mit denen der jetzt lebenden Thiere anzustellen. Seine „Recherches sur les ossements fossiles“ (Forschungen über die fossilen Gebeine) sind eine Frucht dieser Idee. Der Naturforscher von Fach weiß dieses Werk, voll der tiefsten, gründlichsten Forschungen, zu würdigen, wir begnügen uns, es hier anzuführen. Wie bescheiden Cuvier dabei war, und wie er auch in dieser Hinsicht als Beispiel aufgestellt werden kann, zeigen die Worte, welche er über seine damaligen schriftlichen Arbeiten, in denen er das Resultat seiner Forschungen niedergelegt, an einen Freund schrieb.

„Das Manuscript,“ schreibt er, „ist nur für mich bestimmt; ohne Zweifel ist alles darin Enthaltene schon bekannt und von den pariser Naturforschern schon besser erklärt worden; denn ich habe ohne Bücher und Sammlungen gearbeitet.“

Hier war es auch, wo Cuvier mit dem berühmten Nationalökonom, dem Verfasser der Artikel über die Agricultur im Dictionnaire de l’Encyclopédie méthodique, mit dem Abbé Tessier, bekannt wurde. Tessier[WS 1] hatte nämlich geglaubt, als Abbé unter der Schreckensherrschaft in Paris nicht sicher zu sein, und war deshalb als Regimentsarzt unter einem falschen Namen in die Armee eingetreten und lag zu seiner Zeit in Valmont in Garnison. Cuvier erkannte ihn, obgleich er ihn nie gesehen, doch augenblicklich an seinem Vortrag, den Tessier eines Abends in einer Zusammenkunft wissenschaftlich gebildeter Männer auf Schloß Fiquainville hielt, und worin er dieselben Ideen entwickelte, welche er in seinen Artikeln in obengenannter Zeitschrift dargelegt. Als Cuvier den verkappten Abbé mit seinem wahren Namen anredete und begrüßte, schrak Tessier zusammen und rief verzweifelt aus: „Ich bin entdeckt – ich bin verloren!“ Cuvier beruhigte ihn, und von dieser Zeit an datirt sich seine Freundschaft mit Tessier, die ihn in die engste Verbindung mit einer Menge ausgezeichneter Gelehrten wie Lacépède, Millin de Grandmaison, Geoffroy, Saint Hilarie u. A. brachte.

Die Verbindung mit diesen Männern lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn, und im Jahre 1795 wurde er, als er sich auf einer Reise in Paris befand, von der Regierung zum Mitglied für die Commission der Künste und nicht lange darauf zum Professor an der Centralschule des Pantheons ernannt.

Von jetzt an beginnt seine glänzende Laufbahn, die wir nur in kurzen, gedrängten Zügen darlegen wollen, um den gegebenen Raum nicht zu überschreiten. Schon im Juli 1795 wurde er als Substitut dem am Jardin des plantes als Professor der vergleichenden Anatomie angestellten Mertrud beigegeben. Ihm verdankt der Jardin des plantes die unübertroffene Sammlung für vergleichende Anatomie, die man jetzt noch in Paris bewundern kann.

Im Jahre 1796 wurde er Mitglied des Institut national und erhielt dabei die Stelle eines dritten Secretärs der Gesellschaft. Den ihm von dem damaligen General Buonaparte durch Berthollet gemachten Antrag, die Expedition nach Aegypten zu begleiten – im Frühjahr 1798 – lehnte er ab, da ihm die Sammlungen seines Museums im Jardin des plantes zu sehr am Herzen lagen. Im Jahre 1800 gab er seine Leçons d’anatomie comparée (Vorlesungen über vergleichende Anatomie) heraus und in demselben Jahre erhielt er am Collège de France die Stelle, welche bis jetzt Daubenton, Busson’s berühmter College, welcher mit diesem die Naturgeschichte der Säugethiere herausgab, inne gehabt hatte. Im Jahre 1802 wurde er von dem ersten Consul zu einem der sechs Generalinspectoren ernannt, welche in zweiunddreißig französischen Städten Lyceen errichten sollten. Der Sonnenschein des Glücks verließ ihn von da an niemals wieder.

Er wurde hintereinander zum Rath bei der kaiserlichen Universität, zum Maître des Requêtes im Staatsrath, im Jahre 1813 zum außerordentlichen kaiserlichen Commissär und 1814 zum Staatsrath ernannt. Ludwig XVIII. bestätigte ihn in seinen Aemtern, und 1819 wurde er Präsident des Comitées für die innern Angelegenheiten im Staatsrathe. Das Ministerium des Innern, welches man ihm antrug, lehnte er ab, weil er sich nicht zu einem Werkzeug der zurückgekehrten Emigrirten hergeben wollte. Er wurde Mitglied der Academie von Frankreich, Großmeister der Universität und Großoffizier der Ehrenlegion. –

Aber keinem der Sterblichen schenken die Götter ein ungetrübtes Glück. Von Ehrenbezeugungen und Würden überhäuft – war Cuvier unglücklich als Vater. Aus seiner Ehe mit Madame Duvancel, einer jungen, liebenswürdigen Wittwe, wurden ihm drei Kinder geboren, von denen keins den Vater überlebte. Es war im Jahr 1827, als ihm der Tod auch das letzte Kind, seine einzige, schöne, zweiundzwanzigjährige Tochter Clementine raubte, kurz vor ihrer Vermählung. Der Schmerz darüber warf den Greis, dessen Haare von Arbeit und Nachtwachen gebleicht, auf’s Krankenlager. Als er nach seiner Wiedergenesung wieder in den Staatsrath, dessen Präsident er war, erschien, leitete er ruhig und gefaßt die Verhandlungen, wie er aber das Resumé geben sollte, da übermannte ihn von Neuem der Schmerz und Thränen traten in seine Augen. Er senkte das Haupt auf den Tisch und verhüllte sich das Gesicht mit den Händen. Tiefe, stumme Wehmuth herrschte in der Versammlung der Räthe. Endlich erhob Cuvier das Haupt wieder und sprach:

„Verzeihen Sie, meine Herren – ich war Vater und habe Alles verloren.“ Hierauf setzte der die Verhandlung fort.

Nach der Julirevolution ernannte ihn Ludwig Philipp zum Pair von Frankreich, und schon war das königliche Decret, welches ihn an die Spitze des Staatsraths rief, ausgefertigt, als ihn der Tod am 13. Mai 1832 inmitten seiner Thätigkeit ereilte.

„Die Willensnerven sind die leidenden Theile,“ sprach er kurz vor dem Augenblick des Sterbens, indem er sich dabei an die neuen neurologischen Entdeckungen Bell’s und Scarpa’s erinnerte. In der zweiten Nachmittagsstunde des 13. Mai brach sein strahlendes Auge, über seine Stirn flog der Schatten des Todes, und die Welt war um einen ihrer großen Bürger und Naturforscher ärmer. –




Gegen Beutelschneider-Charlatanerien.

I. Geheimmittel.

Trotz aller Civilisation und Kultur in unserer Zeit erscheint die jetzige, selbst die sogenannte gebildete Menschheit doch beklagenswerth, ja verächtlich-unwissend und ungebildet, sobald das Heilen von Krankheiten in Frage kommt. Nicht genug, daß jeder Ignorant, der weder von den Naturgesetzen, noch von den Einrichtungen im gesunden und kranken menschlichen Körper die leiseste Ahnung hat, ganz keck sein Urtheil und seinen Rath über Krankheit, Arzt, Arzneimittel und Heilmethoden abgiebt, nein! er kurirt auch selbst in’s Blaue hinein, unbekümmert darum, ob er Schaden anrichtet oder nicht. Es wächst ferner die Zahl der verschiedenartigsten Charlatanerien tagtäglich und findet fortwährend gesteigerten Anklang. – Forscht man nach der Ursache, weshalb

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_613.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2023)