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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

werden. Ein Dieb ist nur, wer bereits vollständig des Diebstahls überführt ist.“

Der General sah wieder in das Gesetzbuch. Er wurde still.

„Dumme Gesetze das. Recht dumme Gesetze!“

Auf einmal wurde er wieder lebhaft. Er schien plötzlich einen durch die Finsterniß hell leuchtenden Gedanken gefaßt zu haben.

„Auditeurchen!“

„Herr General?“

„Der Mensch hat gestohlen, zweifeln Sie daran?“

„Ich für meine Person bezweifle es nicht.“

„Er hat einen armen Offizier bestohlen.“

Der Auditeur verbeugte sich wieder schweigend.

„Er hat ihm sein ganzes Vermögen gestohlen.“

Der Auditeur verbeugte sich.

„Der Offizier muß wieder zu dem Seinigen kommen.“

Der General sah bei jedem seiner Sätze fragend den Auditeur an, dem daher auch diesmal nur übrigblieb, sich schweigend zu verbeugen.

„Der Mensch kann als überführter Dieb nach den Gesetzen nicht betrachtet werden.“

„Nein, Herr General.“

„Auch nicht als frecher Lügner.“

„So ist es, Herr General.“

„Nach den Gesetzen kann ich ihn daher auch als Gerichtsherr nicht züchtigen lassen.“

„Nein, Herr General.“

„Aber er ist hier aus der Festung ausgebrochen.“

„Ja, Herr General.“

„Das ist gegen die militärische Ordnung der Festung.“

„Allerdings, Herr General.“

„Ueber die militärische Ordnung in der Festung habe ich zu wachen, nicht als Gerichtsherr, sondern als Festungscommandant.“

„Zu Befehl, Herr General.“

„Atso auch nicht nach den dummen Gesetzen da, sondern nach meiner Instruktion.“

„Zu Befehl, Herr General.“

„Ich habe nach dieser auch ein Disciplinarzüchtigungsrecht gegen die sich auflehnenden Gefangenen.“

„So steht es in der Instruktion.“

Der General triumphirte, daß sein Auditeur, der, obwohl in seinen Augen nur halb Offizier, dennoch in juristischen und vielen andern Dingen eine ganze Autorität für ihn war, bis dahin seiner Logik keinen einzigen Widerspruch hatte entgegenstellen können. Völlig siegreich schloß er:

„Also, Auditeurchen, lasse ich als Commandant, nicht als Gerichtsherr, dem Menschen seine Hiebe geben. Achtzig dictire ich ihm, lassen Sie sie sofort vollstrecken.“

Der bedächtige und gewissenhafte Auditeur hatte noch immer Einwendungen.

„Der Herr General vergessen,“ sagte er, „daß Sie wegen des Ausbruchs des Menschen schon eine Kriminaluntersuchung haben einleiten lassen. Doppelt kann er nicht bestraft werden; die Kriminaluntersuchung hebt das Disciplinarverfahren auf.“

Allein diesmal ließ der alte General sich nicht irre machen.

„Das ist für den Ausbruch, Auditeurchen,“ rief er. „Züchtigen lasse ich ihn für das Entweichen.“

„Durch das Ausbrechen ist er entwichen, Herr General. Das ist von einander nicht zu trennen.“

„Es ist zweierlei, sage ich Ihnen.“

„Ich bedauere, Herr General, gesetzlich –“

„Ich befehle hier als Commandant nach meiner Instruktion; hier gibt es kein Gesetz.“

„Das Gesetz steht über der Instruktion.“

„Das verstehen Sie nicht, Auditeurchen.“

„Herr General – “

Das Gesicht des alten Generals wurde sehr roth.

„Herr Auditeur, wo ich als General befehle, bin ich gewohnt, jeden Widerspruch als Insubordination

„Zu Befehl, Herr General.“

„So lassen Sie dem Menschen seine Achtzig geben.“

Der Auditeur hatte noch eine Einwendung, freilich nur eine halbe.

„Entschuldigen Sie, Herr General, die Instruktion gestattet Ihnen als Disciplinarzüchtigung nur vierzig Hiebe.“

Der General ließ sich auch durch diesen Einwurf nicht irre machen.

Auf einmal nur vierzig, Auditeurchen. Sie lassen ihm also zuerst vierzig geben, und wenn er dann noch nicht bekannt hat, so rapportiren Sie mir, und er bekommt die zweiten vierzig.“

„Wenn er nicht bekannt hat, Herr General? Ich denke, er bekommt die Züchtigung für sein Entweichen.“

„Das verstehen Sie nicht, Auditeurchen, das geht meiner Instruktion an.“

„Aber dann die zweiten vierzig? Für das Entweichen kann er nur einmal gezüchtigt werden.“

„Auditeur, Sie werden unausstehlich. Das wird sich finden. Gehen Sie.“

Der Auditeur ging, die Züchtigung vollstrecken zu lassen. Der Corporal, der sie zu vollziehen hatte, war von dem Commandanten schon instruirt.

Fritz Jure wurde vorgeführt, um seine Züchtigung zu empfangen. Der Auditeur eröffnete ihm den Zweck der Vorführung.

„Der Herr General hat Dir vierzig Hiebe dictirt, für Deine Entweichung.“

Der Gefangene schien darauf gefaßt zu sein. Er verzog keine Miene. Der Corporal flüsterte ihm in’s Ohr:

„Du wirst achtzig bekommen, wenn Du das gestohlene Geld nicht herausgiebst.“

Der Dieb sah ihn höhnisch an. Er bekam vierzig Hiebe. Mit einem Stock, stehend, auf den Rücken. Der Nichtsoldat wird liegend mit der Peitsche auf dem Gesäß gezüchtigt. Er verzog auch während der Züchtigung keine Miene.

„Nun?“ fragte ihn der Corporal.

Der Dieb antwortete mit einem Blicke der Verachtung. Der Auditeur mußte dem General rapportiren.

„Die Züchtigung ist vollstreckt, Herr General.“

„Hat er bekannt, Auditeurchen?“

„Nein, Herr General.“

„Lassen Sie ihm die zweiten vierzig geben.“

„Herr General, die Instruktion –“

„Die zweiten, sage ich. Vierzig hat er bekommen für das Entweichen. Andere vierzig bekommt er dafür, daß er bei seiner Entweichung die Sträflingskleidung mit sich fortnahm.“

„Er konnte doch nicht nackt davon laufen, Herr General.“

„Das verstehen Sie nicht. Meine Instruktion habe ich auszulegen.“

Der Dieb bekam die zweiten vierzig Stockhiebe. Er zuckte auch diesmal nicht. Aber sein Gesicht war leichenblaß geworden, seine Augen waren von weiten, schwarzen Kreisen umgeben.

„Nun, das Geld?“ fragte, als die Execution beendigt war, der Corporal wieder.

Der Gezüchtigte antwortete mit einem Blicke stiller, aber desto drohender Wuth.

Der Auditeur rapportirte wieder dem General.

„Auch die zweite Züchtigung ist vollstreckt.“

„Hat er bekannt?“

„Nein.“

„Für heute mag er Ruhe haben.“

Am andern Morgen mußte der Auditeur wieder zum General kommen.

„Auditeurchen, der Mensch muß heute wieder seine achtzig haben.“

„Aber, verehrter Herr General –“

„Auditeurchen, der Mensch hat einen armen Lieutenant bestohlen.“

„Herr General, ich bitte Sie –“

„Der Vater der Braut war mein Freund.“

„Herr General, geben Sie der Stimme der –“

„Zuerst vierzig, Auditeurchen, dafür, daß er seine Commißjacke, die er mitgenommen, nicht zurückgebracht hat. Keine Widerrede!“

Der Auditeur mußte auch die dritte Züchtigung vollstrecken lassen. Vorher ließ er den Gefangenen in sein Verhörzimmer führen.

„Jure,“ sagte er hier zu ihm, „der General hat Dir eine neue Züchtigung von vierzig Hieben dictirt, für die Verbringung Deiner Sträflingskleidung. Er wird Dich auf solche Weise ferner züchtigen lassen, bis Du das Geld herausgiebst. Ich kenne ihn, und er hat das Recht dazu. Gehe in Dich. Mache Dich nicht zum Krüppel.“

„Ich habe nicht gestohlen, ich weiß von keinem Gelde,“ antwortete der Dieb mit seinem frechen Trotze.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_510.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2018)