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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

No. 38. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Der gestohlene Brautschatz.
Eine Criminalgeschichte aus guter alter Zeit.
Vom Verfasser der schwarzen Mare
(Fortsetzung.)


III.

Am andern Morgen um sieben Uhr stand ein Mann von mittlerer Größe, kräftigem, gedrungenem Gliederbau, mit einem runden, rothen, sehr gutmüthigen und freundlichen und etwas weniger listigen Gesichte, gekleidet in einen braunen Ueberrock, in der Hand einen dicken Rohrstock mit einem großen silbernen Knopfe darauf, in der Thüre des Hauses, Königsstraße Nummer zwei zu Berlin. Er schien auf Jemanden zu warten, und sah sich unterdeß, wie zum Zeitvertreibe, die Leute an, die vor ihm hin- und hergingen. Die Königsstraße, besonders an ihrem Anfangspunkte bei der Kurfürstenbrücke, ist die lebhafteste Straße Berlins. Dort findet sich das größte Gedränge der Stadt zusammen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Auch an jenem Morgen wogten eine Menge von Menschen auf und ab, an beiden Seiten der Straße, auf den Trottoirs zu Fuße, in der Mitte zu Wagen und zu Pferde. Vor dem Manne mit dem freundlichen Gesichte schien keiner unbemerkt vorbeizugehen; viele kannte er. Manche der Vorbeigehenden kannten auch ihn; den meisten von diesen schien aber seine Bekanntschaft keine eben erfreuliche zu sein. Auf je Einen, der ihn freundlich, zuweilen dankbar grüßte, kamen Drei, die mit scheuem Hutabziehen, oder auch blos scheuem Blicke an ihm vorbeigingen, und, wenn sie vorbei waren, ihre Schritte beschleunigten, gleichsam, als ob sie fürchteten, daß ein Unglück hinter ihnen herkommen und sie einholen möchte.

Von der Kurfürstenbrücke her kam ein alter Mann in einem zerlumpten grünen Flausch, mit einem aufgedunsenen, halb grauen und halb rothen Gesichte und dem eigenthümlich verschleierten Blicke des Zuchthauses. Der Mann sah suchend und zugleich fürchtend nach allen Seiten der Straße umher. Auf einmal gewahrte er den freundlichen Mann in der Thüre des Hauses Nummer zwei. Er senkte seine Augen plötzlich ängstlich, er hielt unwillkürlich seinen Schritt an. Doch in demselben Momente faßte er sich Muth. Er richtete sich in die Höhe, um stramm, und ohne seitwärts zu blicken, an dem Hause Nummer zwei und dem gefürchteten, freundlichen Manne in der Thüre desselben vorbei zu gehen. Er befand sich auf der rechten Seite der Straße von der Kurfürstenbrücke. Er mußte also unmittelbar an jener Thür vorbei. Als er gerade vor ihr war, starr vor sich hinblickend, und, ähnlich dem Vogel Strauß, vielleicht schon meinte, der Gefahr entgangen zu sein, erhielt er auf einmal einen Schlag mit einem Rohrstock auf die Schulter. Der Schlag war nur leise, traf ihn aber doch wie mit heftiger elektrischer Gewalt. Der ganze Mann zuckte zusammen. Er blieb stehen, demüthig seine alte Mütze vom Kopfe reißend.

„Ei, Lude,“ sagte der Mann mit dem gutmüthigen Gesichte freundlich lächelnd, „haben sie Dich über Deine Zeit im Zuchthause zu Brandenburg festgehalten?“

„Nein, Herr Polizeirath.“

„Dann mußtest Du schon seit vorgestern wieder hier sein.“

„Zu Befehl, Herr Polizeirath.“

„Und Du hast Dich bei der Polizei noch nicht gemeldet? Alter Lude, das kann dir drei Monate Ochsenkopf eintragen.“

„Ich bin auf dem Wege zum Molkenmarkt, Herr Polizeirath.“

„Schön, Lude, dann will ich Dich nicht aufhalten.“

Der alte Dieb ging leicht weiter. Sein Schritt war leicht geworden, als wenn er sich von einer schweren Last befreit fühlte. Er bog in der That in die gleich in der Nähe befindliche Poststraße ein, die zum Molkenmarkt führt. Am Molkenmarkte Nummer drei hat das Polizeipräsidium der Residenz Berlin seine vielgefürchtete Residenz.

Der freundliche Polizeirath war fast ohne sich zu rühren in der Thür stehen geblieben. Er sah dem alten Diebe nach; dann wandte er sich nach dem Innern des Hauses um.

„Schmidt Vier!“ rief er in das Haus hinein.

Ein baumlanger Gensd’arm stand beinahe in dem nämlichen Augenblicke neben ihm.

„Herr Polizeirath!“

„So eben geht der Ludwig Liedke vorbei. Er wurde sichtlich verlegen, als er mich sah. Er hat also schon wieder etwas verübt.“

„Er hat sich noch nicht gemeldet, Herr Polizeirath.“

„Das war es nicht. Seine Verlegenheit war eine andere. Er hat schon wieder gestohlen. Bis gestern Abend war noch nichts zur Anzeige gekommen, was von ihm hätte ausgehen können. Er muß also heute Nacht gestohlen haben, und er ist jetzt auf dem Wege, das Gestohlene in irgend einer Weise zu Gelde zu machen. Daß das noch nicht geschehen ist, dafür spricht auch der alte grüne Flausch, den er noch trägt, und in dem er voriges Jahr abgeliefert wurde. Er hat sich noch keinen andern Rock anschaffen können. Er kam von der Kurfürstenbrücke und wollte die Königsstraße hinunter. Auf meine Veranlassung ist er zuerst zum Polizeipräsidium gegangen, sich zu melden. Gehen Sie ihm gleich nach. Machen Sie, daß Sie vor ihm bei dem Hofrath Falkenberg ankommen, bei

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_495.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2019)