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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Arbeitskraft allein reiche nicht aus, die Schulden wieder zu decken und in eine sorgenfreiere Lage zu kommen, machte ihn muthlos, bis er endlich von dem Bestreben geleitet, seine Sorgen und seinen Kummer zu vergessen oder zu betäuben, dem Laster des Trunkes sich ergab. Natürlich daß dadurch die Noth und das Unglück der Familie sich von Tag zu Tag nur noch vergrößerte. – Soweit war es mir gelungen, in die Verhältnisse der Familie einzudringen, bevor ich noch selbst derselben mich näherte. – Schon drohte der materielle Nothstand auch moralisches Elend über diese Armen zu bringen. Sollten sie vor diesem bewahrt werden, so mußte es das Erste sein, die Quelle ihrer Nahrungssorgen zu verstopfen. Mein Bestreben ging daher auch zunächst dahin, den Aeltern lohnendere Arbeit zu verschaffen. Und nur erst als mir dies gelungen war, trat ich persönlich, doch ohne mir merken zu lassen, daß ich schon vorher von ihren Verhältnissen mich unterrichtet und mit ihrem Geschick mich beschäftigt habe, der Familie selbst näher. Ebenso aber hütete ich mich auch, ihnen meine Sorge um ihre Existenz wie eine von mir absichtlich ihnen ertheilte Wohlthat vorzuführen, und somit zu einem moralischen Zwange für sie werden zu lassen. Gerade dies geschieht so häufig, und man gründet auf gewährte Wohlthaten die Berechtigung, gute Lehren geben zu können, erkauft sich damit gleichsam ein Recht der Bevormundung. Wohl mag bei einem solchen, nach meiner Ansicht falschen Verfahren, in vielen Fällen scheinbar die gehabte Absicht erreicht werden, d. h. die betreffenden Personen fühlen sich verpflichtet, das, was ihnen gerathen wird, zu befolgen, nur mit dem großen Unterschiede, daß sie das Gute und Rechte nicht um seiner selbst, sondern um des Nutzens willen thun, der ihnen dadurch von den Rathenden zu Theil wird. Somit ist denn dieses Verfahren nur geeignet, die Menschen systematisch zur Lohntugend heranzubilden. Ich hatte gar bald die Freude, das Gefühl der Anerkennung und Dankbarkeit in den Herzen jener Aeltern erwachen zu sehen, und dieses Gefühl brachte ungesucht und natürlich uns gegenseitig einander näher.

Als ich so meinen Einfluß in der Familie wachsen sah, so benutzte ich diesen nun weiter zum Vortheil der Kinder. Ich suchte mir die Liebe derselben immer mehr und mehr zu erwerben, aber nicht durch Geschenke, sondern dadurch, daß ich, so zu sagen, zu ihnen herabstieg und in ihrer kindlichen Weise mit ihnen verkehrte. Bald waren mir die Herzen der Kleinen so zugethan, daß sie keine höhere und größere Freude kannten, als wenn ich ihnen erlaubte, mich zu besuchen und mehrere Stunden bei mir zu sein. Als ich nun der Zuneigung und Anhänglichkeit meiner kleinen Pfleglinge gewiß war, begann ich, wiederum unter Vermeidung des Scheines der Absichtlichkeit entschiedener als bisher auf sie erziehend einzuwirken.

Als Mittel für meinen Zweck benutzte ich die Erzählung. Ich erzählte meinen Schützlingen eine Geschichte von armen Kindern, in welcher sie sich selbst wie in einem Spiegel erkennen konnten. Mit den lebhaftesten Farben schilderte ich den Sinn für Reinlichkeit, Ordnung und Thätigkeit, der die Kinder meiner Erzählung beseelt habe, welches Glück, welchen schönen Frieden sie nach erfüllter Pflicht empfunden hätten. Am Schlusse der Geschichte vermied ich vor meinen kleinen Zuhörern die Nutzanwendung auf sie selbst auszusprechen; denn meine Ueberzengung war schon damals, daß eine selbst gefundene und empfundene Lehre zur Nacheiferung viel sichrer die eigne Thatkraft anzuzuregen vermöge, als eine ausdrückliche Hinweisung auf den lehrreichen Inhalt unserer Worte, vorgetragen wie ein Theil der Geschichte selbst und im ernst mahnenden Tone. Wir benehmen ihnen dadurch die Gelegenheit selbst zu denken und nach eigener Empfindung das Gehörte auf sich anzuwenden. – Wenn alle drei Kinder meiner Erzählung mit großer Aufmerksamkeit gefolgt, so hatte doch die elfjährige Marie, die älteste der Kinder, die meiste Theilnahme dabei an den Tag gelegt.

Als am andern Tage die Mutter der Kinder zu mir kam, da erzählte sie mir, wie sie am vergangenen Abende bei ihrer Rückkehr von der Arbeit die Kinder noch ganz ergriffen von einer Geschichte gefunden habe, die ich ihnen erzählt, und daß Marie ganz bestimmt erklärt habe, sie wolle wie Bertha in der Geschichte von nun an die Wirthschaft besorgen, während die beiden Knaben, der achtjährige Wilhelm und der siebenjährige Karl gebeten hätten, ihnen doch stricken zu lehren, damit sie auch fleißig sein könnten! Welche große Freude empfand ich bei diesen Mittheilungen der Mutter! Mein erster Versuch war somit ein glücklicher zu nennen, – ich hatte wirklich erziehend gewirkt, nicht durch ein nur unterrichtendes Wort, ein nacktes Gebot, sondern dadurch, daß ich das Selbsterkennen des Guten, und den Trieb, es auszuführen in den Kindern hervorgerufen hatte.

Als nun die Kinder wieder zu mir kamen, sprach ich zu ihnen von der Freude, die ich empfunden, als mir ihre Mutter von ihren guten Entschlüssen erzählt habe, und wie gern ich bereit sei, ihnen bei der Ausführung derselben hülfreich die Hand zu reichen. Von Stund an ließ ich mir den Unterricht und die Belehrung meiner Kleinen in verschiedenen Dingen angelegen sein. Wie reich wurde ich durch meine geringen Bemühungen belohnt! Marie wurde gar bald die fleißige Martha im Hause, und Reinlichkeit und Ordnung schmückten binnen Kurzem die kleinen Räume der armen Familie. Mit Verwundern bemerkten die Aeltern, die mit ihren eigenen Kindern vorgegangenen glücklichen Veränderungen, vorzüglich die Mutter sprach oft mit recht warmem Herzen mir ihre Freude hierüber aus. Diese Anerkennung benutzte ich wieder, um auf die Mutter selbst für meine Zwecke einzuwirken, dadurch, daß ich sie über die Art und Weise meines Verkehres mit Kindern unterrichtete und einige Belehrungen über die kindliche Natur im Allgemeinen mit einfließen ließ. Auch sie bewieß mir bald durch ihr Thun und Lassen unter den Kindern, daß sie die gegebenen Winke verstanden habe und ihnen gemäß zu handeln bemüht sei. So ward mir bald die freudige Genugthuung, zu sehen, daß in dem Kreis dieser Familie nach und nach ein anderer, besserer Geist einzog, und daß jedes Familienglied, Aeltern wie Kinder, mit Ernst nach Selbstveredlung strebten. – Aber noch eine andere große und unerwartete Freude ward mir zu derselben Zeit durch eine, meinen bisherigen Schützlingen benachbarte Familie zu Theil. Diese Familie befand sich in ähnlichen unglücklichen Verhältnissen wie jene erstere, hatte aber, veranlaßt durch das gute Beispiel ihrer Nachbarn im Stillen wetteifernd mit dieser nach Selbstveredlung gestrebt, und Reinlichkeit, Ordnung und Frieden war auch in ihren Familienkreis eingekehrt. Vorzüglich liebenswürdig waren die Kinder dieser Nachbarsleute, die, so zu sagen, um meine Gunst buhlten, indem sie auf alle nur mögliche Weise sich mir zu nähern suchten. Wie reinlich hielten sie von da ab ihre Hände und Gesicht, wie geordnet und glatt gestrichen ihr Haar; aber auch wie viel Mühe ließen es sich die Kleinen kosten, daß ich sie doch endlich bemerken sollte! Und diese Beweise von Fleiß und Ordnungsliebe und Anhänglichkeit an mich waren für mich um so werthvoller, als ich ja die Gewißheit haben konnte, daß nicht kleinlicher Eigennutz es war, der die Kinder um meine Liebe werben ließ. Ich hatte ihnen so wenig wie meinen ersten Pfleglingen Geld oder andere werthvolle Geschenke gegeben, und gab auch grundsätzlich in der Folge nie geschenkweise Geld an die Kinder oder Aeltern. Wohl aber sorgte ich für manche unentbehrliche Bedürfnisse im Hause oder für den Unterricht. – Durch diese gewiß in jeder Beziehung nützliche Zurückhaltung wurde es mir möglich, binnen Kurzem meine Thätigkeit in der oben geschilderten Weise auf vier Familien mit zwölf Kindern zu erstrecken, und betrugen doch die Geldausgaben für Alle in dem Zeitraume eines Jahres noch nicht ganz neun Thaler! – Ich fühlte in dem erwählten Berufe mich ganz glücklich, sah ich doch allenthalben glückliche Erfolge. Wöchentlich zweimal versammelte ich alle Kinder meiner Armen um mich in meiner Wohnung. Hier lehrte ich den Knaben wie Mädchen ihre Kleidungsstücke ausbessern und in Stand erhalten und sonst andere für das Haus nützliche Beschäftigungen. Ihren Fleiß belohnte ich durch lehrreiche Unterhaltung oder Gesang, oft auch vereinigte uns am Schlusse der Arbeitszeit ein gemeinsamem Spiel, ausgezeichnet durch den reinsten kindlichen Frohsinn. Mit den Ausdrücken innerster Zufriedenheit schied dann immer die kleine Schaar von mir, und mit stets wachsender Freude und Liebe sah ich sie zu mir wiederkehren.

II.
Die Geschichte eines Mädchens.

War bisher mein Streben in meinem Wirkungskreise immer nur von recht erfreulichen Erfolgen begleitet gewesen, so machte doch ein Fall, bei dem meine Hülfe leider zu spät kam, eine recht traurige Ausnahme in meiner Erfahrung. Es ist, was ich hier erlebte, nach meiner Ueberzeugung für die Erziehung von hoher Wichtigkeit, und darum wohl werth, ausführlicher mitgetheilt zu werden. Es ist die Geschichte eines Mädchens, welches, – ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_491.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)