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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Das dramatische Interesse dieses Abenteuers wird erhöht werden, wenn wir hinzufügen, daß Harrod, als er zwei Stunden später wieder an das Ufer des Miami kam, auf einem Haufen von Treibholz, das sich an der Mündung eines der kleinen in den Hauptstrom sich ergießenden Bäche angesammelt hatte, einen lebendigen Gegenstand bemerkte, den er für eine in der Sonne glänzende große Schildkröte hielt, die sich bemühte, ihren unlenksamen Körper auf den Holzhaufen zu schleppen, um sich dort zu sonnen.

Harrod blieb stehen, um die Sache genauer in Augenschein zu nehmen, und man denke sich sein Erstaunen, als er einen großen Indianer langsam aus dem Wasser hervorkriechen und endlich auf dem Treibholze Platz nehmen sah. Der Indianer hatte seine Büchse verloren und begann das aus einer in seiner Schulter befindlichen Kugelwunde strömende Blut zu stillen. Harrod wußte, daß es der zweite von ihm verwundete Indianer war, der höchst wahrscheinlich ein Stück jenes Treibholzes, womit der angeschwellte Fluß jetzt angefüllt war, erreicht und auf diese Weise, trotz seiner bedeutenden Verwundung, sich schwimmend erhalten hatte.

Hier gab es eine Prüfung für einen Mann wie Harrod; sein Feind war verwundet und hülflos in seiner Gewalt; ihn gefangen zu nehmen, würde unmöglich gewesen sein, und ihn entschlüpfen zu lassen, hielt Harrod mit der seinem Volke schuldigen Pflicht nicht vereinbar. Er überlegte eine Weile, was hier zu thun war, denn erschießen konnte er den armen Teufel nicht.

Nachdem er seinen Entschluß gefaßt hatte, machte er einen weiten Umweg und näherte sich dem verwundeten Krieger heimlich und vorsichtig von hinten. Dicht an dem Treibholzhaufen stand ein großer Baum; hier legte Harrod, nachdem er ihn erreicht hatte, seine Büchse ab, trat dann plötzlich hinter dem Baume hervor und erhob seine Hände, zum Zeichen, daß er unbewaffnet sei.

„Uguh!“ stöhnte der verwundete Krieger und machte eine plötzliche Bewegung, als hätte er sich wieder in das Wasser stürzen wollen. Harrod legte seine Hand auf’s Herz und sprach zwei Worte in der Shawanee-Sprache, worauf der Indianer sich faßte, ihn einen Augenblick ernsthaft ansah und dann zum Zeichen der Unterwerfung sein Haupt neigte. Harrod half ihm das Ufer erklimmen, zerriß sein eignes Hemd und verband die Wunde mit kühlenden Kräutern, und dann, als er sah, daß der Indianer außer Stande war zu gehen, setzte er ihn auf seine breiten Schultern und trug ihn nicht nach der Station, sondern zu einer Höhle, die er als einen seiner Vorrathsplätze zu benutzen pflegte. Außer ihm wußte Niemand etwas von diesem Verstecke, und er hatte ihn zufällig entdeckt, indem er einen verwundeten Bären hineingetrieben hatte.

Der Eingang war sehr enge und mit Dorngebüsch verwachsen; wenn man dieses beseitigte, glaubte man vor einem tiefen Brunnen zu stehen, hatte sich aber das Auge an die Finsterniß gewöhnt, so konnte man allmälig einen trockenen weißen Boden entdecken. Harrod war mit Hülfe einer Baumleiter hinabgelangt. Diese Leiter, die vorzugsweise eine Gränzerrungenschaft ist, besteht einzig und allein aus einem kräftigen jungen Bäumchen, das dicht mit Zweigen besetzt ist. Nachdem man das Bäumchen gefällt hat, werden die Aeste ungefähr sechs Zoll vom Stamme abgestutzt und auf diese Weise zum Emporsteigen trefflich geeignete Sprossen gebildet.

Wenn man den Boden erreichte, der ungefähr zwölf Fuß unter der Oberfläche lag, befand man sich in einem kleinen, aber unregelmäßig gestalteten Gemache, dessen Decke mit zahlreichen schönen und phantastisch gestalteten Stalactiten behangen war, unter welchen am entfernteren Ende des Gemaches ein klares, helles Wasser ruhig in ein weißes rundes Becken sich ergoß, das es sich allmälig in den festen Kalkstein ausgegraben hatte.

Nachdem der kleine Bach in der Länge des Gemaches sich hingezogen, fand er endlich einen Ausgang in einer dunklen Höhlung der Wand, die ungefähr so groß war, daß ein Mann, der auf Händen und Knien kroch, hindurch gekommen wäre. Hier verschwand es, den weißesten Sand bespülend, in unerforschte Tiefen. Von der Spitze jedes der an der Decke befindlichen Stalactiten fielen Wassertropfen langsam auf andere Stalactiten, die sich erhoben, um jenen zu begegnen und die zum Theil die wunderlichsten Gestalten angenommen hatten. Ein ungefähr zwölf Fuß im Geviert haltender Raum der Decke und des Bodens dieses seltsamen unterirdischen Gemaches war trocken wie Zunder.

Ich bin in der Beschreibung dieser Höhle nur deshalb so genau und umständlich, weil ich sie einst besucht habe, und von den wunderbaren Eigenthümlichkeiten dieses Ortes seltsam überrascht wurde. Unter anderen Dingen bildet das beständige Tröpfeln des Wassers auf die weißen, klingenden Stalactiten eine Art leisen Harmonicons, dessen Lieblichkeit ich nimmer vergessen werde.

In diesem eigentlichen Verstecke verbarg Harrod, wie man sich erzählt, seinen verwundeten Feind, denn nachdem der edelmüthige Jäger einmal beschlossen hatte, ihm Beistand zu leisten, duldete es seine Großmuth nicht, dem stolzen Krieger eine Demüthigung zu bereiten, die für ihn schlimmer war, als der Tod, und ihn seinen weißen Feinden als Gefangenen zuzuführen. Harrod nahm sich seiner an, bis er wieder hergestellt war und besuchte ihn regelmäßig auf seinen Jagdausflügen. Als der Krieger wieder kräftig geworden war, versah ihn Harrod mit einem Vorrathe von Lebensmitteln und bat ihn, nach Norden deutend, zu seinem Volke zurückzukehren und diesem zu erzählen, wie das „Langmesser“ seinen verwundeten Feind behandelte.

Harrod wurde allenthalben sehr beliebt, denn seine vielen außerordentlichen Thaten und gütigen und menschenfreundlichen Handlungen waren nicht seine einzigen Ansprüche auf die Achtung und Dankbarkeit der jetzt schnell zunehmenden Bevölkerung von Kentucky. Seine männliche Weisheit und sein trefflicher Rath waren seiner Thätigkeit und Wirksamkeit im Felde vollkommen entsprechend; denn obgleich er bis zum Lebensende kaum seinen Namen schreiben konnte und fortwährend ein Mann von wenigen Worten blieb, so war doch eine kurze Aeußerung aus seinem Munde in jener stets von weit größerem Werthe, als alle glänzenden Reden, die ein schreiender Demagog in einem Jahre halten konnte.

Er war erwählter Oberst, sehr glücklich mit einer ächten Kentuckierin verheirathet und allgemein geachtet und verehrt, obgleich er kaum über sein Jugendalter hinaus war. Seine Bescheidenheit war unüberwindlich, und er ging scheu allen Ehrenbezeigungen aus dem Wege, die er irgendwie vermeiden konnte.

Merkwürdig ist es, daß ihn nicht einmal die Reize seines häuslichen Glückes, nicht die Liebe seiner Mitbürger oder die Anziehungskraft einer täglich sich mehr verfeinernden Gesellschaft jener eigenthümlichen Neigung zur Jagd entfremden konnten, durch welche sich Harrod vorzugsweise auszeichnete und die dem Jäger-Naturforscher, in welcher Gestalt er auch auftreten mag, so eigenthümlich zu sein scheint. Noch immer vergrub er sich, mit seiner Büchse ausgerüstet, Wochen und selbst Monate lang in irgend eine noch unentweihte endlose Wildniß, aus welcher er, mit den Trophäen seiner Jagd beladen, eben so unerwartet wieder hervor kam, als er verschwunden war.

So verschwand er auch einmal, um nicht wieder zurückzukehren. Welcher Zufall seiner Jagd oder welcher tödtliche Kampf mit seinen indianischen Feinden seinem Leben ein Ziel gesetzt hatte, war nie zu erforschen.

So starb ein ächter Held – einen Tod, den er sich wahrscheinlich freiwillig erwählt haben würde – in jener wilden, ernsten Einsamkeit, die er so zärtlich liebte und im ehrlichen Kampfe mit jenen Zufälligkeiten, welchen die Stirne zu bieten sein Stolz und sein Ruhm war. Angesicht gegen Angesicht vor Gott, der uralten Natur und seinem Feinde hörte das edle Herz zu schlagen auf, erschlaffte der starke, kräftige Arm.

Die winterlichen Winde haben fürwahr manches stattliche Mausoleum umweht, aber nie klagten sie ein großartigeres Requiem über einem edleren Grabe, als an jener wilden Stätte von Gestein und Waldung, wo James Harrod ruht. Er hinterließ, wie ich glaube, eine einzige Tochter, und in Harrodsburg und dessen Nachbarschaft lebt noch immer eine von ihr abstammende große Familie.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_476.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2023)