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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Blätter und Blüthen.

Eine Vendetta. (Geschichte von der Insel Corsika.) Wohl Jeder hat schon von der Insel Corsika, wo Napoleon I. geboren ward, und von corsikanischer Vendetta oder Blutrache gehört und solche Vendetta-Geschichten gelesen, da sie dem Roman- und Novellenschreiber durch Leidenschaften wilder und dabei ausdauernder Art gar zu verlockende Gelegenheit geben, sich in Ausmalung socialer und moralischer Vulcanität zu zeigen. Die corsikanische Blutrache, noch jetzt trotz Polizei und starker Regierung nicht ausgerottet, ist vulcanische Eruption beleidigter Ehre, glühender Lava von Leidenschaft, die sich, wenn sie einmal ausgebrochen ist, unaufhaltsam aus Familien und Parteien über heimliche Familien und Parteien hinwälzt und nicht eher sich abkühlt, als das Blut des letzten Feindes vergossen ist. Wenn wir eine solche Vendetta-Geschichte aus der neuesten Zeit hier mittheilen, geschieht es nicht, um den Leser an fürchterlichen Leidenschafts- und Blutströmen hinzuführen, sondern blos wegen des Schlusses. –

Der Vendetta-Familienkrieg zwischen den Vincenti’s und Grimaldi’s (reichen corsikanischen Stämmen), entbrannte aus einem Streit über ein lächerliches Vorrecht, das die eine Familie gegen die andere allein zu haben glaubte. Die Vincenti’s trugen gezuberte Mäntel. d. h. solche, deren Kragen wie eine Mönchskappe über den Kopf gestülpt werden können; die Grimaldi’s trugen auch solche Mäntel und zwar in der Ueberzeugung, daß sie allein das Vorrecht dazu besäßen. Diese gegenseitige Kreuzung von Vorrechten gab an sich keinen Grund und kein Feuer zu einem Vendettakrieg, aber die gegenseitige Wuth führte bald zu blutigen Streitigkeiten, und als einmal Blut geflossen war, brachen die Vulkane los.

Ein Vincenti ließ eines Tages eine beleidigende Bemerkung gegen einen Grimaldi fallen. Der Grimaldi stürzte sich auf den Vincenti, mit Namen Orso Paolo, und nachdem er geschossen, stach er. Beide Parteien sammelten sich um ihre Häupter und schossen, stachen und schlugen auf einander mit gellendem Rachegeschrei. Es war in der Nähe der Kirche, wo gerade Gottesdienst war. Das Volk stürzte heraus, Männer, Weiber, Kinder und die Priester mit Krucifixen in den Händen, um den Sturm zu beschwichtigen. Aber die Wuth hatte schon ein Hauptopfer verschlungen, Antonio, den ältesten Sohn Ruggero’s, des Hauptes der Grimaldi-Familie. Orso hatte ihn erschossen. Der Racheschrei der Grimaldi’s gegen den Mörder wurde augenblicklich Pathos und Leidenschaft der ganzen Masse, welche mit den Grimaldi’s, über Priester und deren Krucifixe hinweg, den fliehenden Orso verfolgten. Letzterer lief wie ein gejagtes Wild nach dem benachbarten Walde, um dort ein Versteck zu suchen. Aber die Verfolger waren dicht hinter seinen Fersen: ihre Kugeln sausten um seine Ohren; ihr kreischendes Rachegeschrei wälzte sich wie eine Lawine gegen den abwärts Fliehenden. Mitten in athemloser Flucht überlegte er, ob eine Möglichkeit sei, in dem Walde Sicherheit zu finden. Sie kam ihm unwahrscheinlich vor, da er annahm, daß die Feinde jeden Strauch, jede Höhle untersuchen würden.

So entschloß er sich plötzlich, in das einzige, allein stehende Haus, an welchem er vorbei kam, zu flüchten, und sich hier nach besten Kräften zu vertheidigen. Er wußte, daß es das Haus seines tödtlichsten Feindes, Ruggero’s, war und daß es jedenfalls leer sei, da in solchen Fällen aufkochender Blutrache Alt und Jung, Weib und Kind thätigen Antheil nehmen. Er war gut gewaffnet, seine „Carchera“ voller Patronen, das Haus voller Lebensmittel. Das gab eine Möglichkeit, sich tagelang zu halten. Orso verbarrikadirte sich in dem Hause und stellte sich mit geladener Büchse an’s Fenster. Die Grimaldi’s und die Volksmassen sahen ihn und hörten ihn schwören, daß er Jedem, der dem Hause nahe, eine Kugel durch’s Hirn jagen werde. Jeder schwankte zurück. Ruggero wüthete wie ein Wahnsinniger, daß der Feind in seinem eigenen Hause Schutz gefunden. Er schrie zum Sturme, Niemand wollte ihm folgen. Da ergriff er eine Pechfackel, zündete sie an und stürzte auf einem Umwege auf sein eigenes Haus, um es anzuzünden. Sein Weib eilte und gellte ihm nach: „Wahnsinniger, unser eigenes, unser einziges, unser letztes Kind schläft in dem Hause! Willst Du Dein eigenes, Dein letztes Kind morden?“

„Laß sie Beide verbrennen,“ knirschte Ruggero, „wenn nur Orso mit verbrennt! Hussah, Orso soll verbrennen!“

So raste Ruggero weiter und warf den Brand in sein Haus. Er fing. Rasch erhob sich die Flamme und die tanzenden Funken fuhren knisternd im Winde umher. Ruggero’s Weib war auf dem Wege zum Hause bewußtlos zusammengesunken und wurde fortgetragen. Ruggero stand vor seinem brennenden Hause inmitten der Seinigen, die mit geladenen Gewehren lauerten, daß Orso nicht lebendig entfliehe. Mit stieren Augen, vorgebogenem Körper, lautlos starrte er in die lodernden, knisternden Flammen. Und als die brennenden Balken einer nach dem andern zusammenkrachten, lachte er plötzlich auf im wilden Jubel und schrie: „Einer wird ihn treffen, einer wird ihn treffen! Ha, wie er sich darunter wälzt und zweifachen Tod stirbt, er verbrennt und er erstickt! Verbrennt, erstickt, zerquetscht! Ha, ha, ha! Ich sehe ihn noch! Ich sehe ihn noch! Schießt ihn todt, wie einen Hund, schießt ihn todt, wenn er flieht! Hat er das Kind auf dem Arme? Hat Einer gesehen, daß er mein Kind auf dem Arme – mein Kind – mein letztes, mein –“

Das ganze Dach brach jetzt krachend zusammen und aus der dicken Rauchsäule züngelten neue frische Flammen hoch auf. Auch Ruggero war nach einem heulenden Schrei zusammengebrochen und wurde in ein Haus getragen, wo seine Frau im Wahnsinn fieberte und sein Sohn Antonio mit der Kugel Orso’s im Herzen im Sterben lag. Als er wieder zur Besinnung kam, blieb er lange unfähig zu begreifen, was eigentlich geschehen sei. Endlich sah er sich mit dem Brande, sein schreiendes, zusammensinkendes Weib, sein brennendes Haus, sein brennendes, letztes, unschuldiges Kind. Er starrte einige Minuten vor sich hin, dann zog er seinen Dolch und wollte ihn sich in’s Herz stoßen. Nur der von Freunden mit Gewalt und Ausdauer gehaltene Arm hinderte ihn daran. Endlich entwaffnete man ihn und entfernte Alles aus seiner Nähe, womit er sich hätte ein Leids anthun können.

Was war aus Orso Paolo und dem Kinde Ruggero’s, Franzesko, geworden? Als Ersterer das Haus in Flammen sah, suchte er nach einer Zuflucht, einem Keller, einer Höhle, was ihm Schutz gegen den erstickenden Rauch und die um sich greifenden Flammen gewähren könne. Als er von Zimmer zu Zimmer lief, hörte er das Geschrei des erwachten, erschreckten Kindes. Er sprang hinzu. Das Kind streckte in lebhaftester Angst schreiend seine Aermchen nach ihm aus. Es war Ruggero’s Kind. Er ergriff es, um es in die Flammen zu werfen, um die letzte Hoffnung der Grimaldi’s zu vertilgen. Die Glut der Rache brannte in ihm heißer als die Flammen um ihn. Er stürzte sich mit dem Kinde an’s Fenster, um es erst seinen Feinden zu zeigen und dann wo möglich vor deren Augen in die Flammen zu werfen. Aber unterwegs berührte ihn die schöne, runde Wange des Kindes und traf ihn das schöne, große, bittende, angstvolle Auge der Unschuld plötzlich bis in’s innerste Mark. Nein, solche Augen, solche blühende Wangen, solche spielende Locken, solch’ ein aufblühendes, heiliges Wesen der Unschuld war mächtiger als das verzehrende Feuer seiner Rache. An seine Wange gelehnt und sich beruhigend – dieses Kindes-Vertrauen war mächtiger als Alles, wie er hernach bekannte – lehnte das Kind auf seinem Arm. Durch Rauch und Flammen graspte er sich hindurch, um einen Ausweg und Schutz zu suchen. Inzwischen stürmten die Leute Castel d’Acquas, eines Verwandten von Orso Paolo, mit Hörnergeschmetter und Schüssen heran und schlugen die Grimaldi’s in die Flucht. Als sie das brennende Haus umgaben und hineinschrien, daß Orso nun sicher sei, brach das Haus vollends zu einem brennenden Schutthaufen zusammen. Niemand konnte sich dem Rauche und der glühenden Hitze nähern.

Eine furchtbare halbe Stunde verging. Plötzlich schwoll ein Freudengeschrei von dem benachbarten Orte Olmo. „Cuviva, Orso Paolo! Cuviva, Orso Paolo!“ Ruggero’s Weib flog an’s Fenster, und mit einem wilden Freudengeschrei eilte sie hinunter auf die Straße, hinter ihr her Ruggero und dessen Freunde. Durch jubelnde Volksmassen hindurch trug Orso Paolo, geschwärzt, versengt und verwildert das Kind Ruggero’s unversehrt auf dem Arme. Er hatte sich in einem Keller den Flammen zu entziehen gewußt. Die Mutter des Kindes warf sich an die Brust ihres Feindes und des Retters und bedeckte das Kind mit wilden Thränen und Küssen. Ruggero aber stürzte sich stumm und das Gesicht verhüllend zu seinen Füßen.

„Steh’ auf, Freund Grimaldi,“ sagte Paolo. „Möge Gott uns Beiden vergeben, wie wir uns einander.“

Die Feinde sanken einander in die Arme, und da sich auch später Antonio erholte, feierten sie ein Versöhnungs- und Freudenfest, das von Olivenzweigen, Musik von Weingläsern, Violinen, Mandolinen und Freudenschüssen überfloß und die ganze Bevölkerung von Olmo mitfeierte. Die Freundschaft der beiden Familien ist seitdem die innigste und treueste geblieben.




Chinesische Uhren. Der berühmte französische Thibet- und China-Reisende, Le Huc, erzählt folgende Art und Weise, wie die gemeinen Chinesen nach der Uhr sehen: „Eines Tages, als wir unsere zum Christenthum bekehrte chinesische Gemeinde besuchen wollten, begegneten wir unterwegs einem Jungen, der einen Ochsen hütete. Wir fragten ihn im Vorbeigehen, ob es schon 12 Uhr sei. Der Junge guckte nach der Sonne, aber sie steckte hinter dicken Wolken, so daß er diese Uhr nicht zu Rathe ziehen konnte.

„Der Himmel ist so voll Wolken,“ sagte er, „aber wartet einen Augenblick.“ So lief er in den benachbarten Bauernhof hinein und kam in einer Minute mit einer Katze auf dem Arme zurück. „Seht,“ sagte er, „’s ist noch nicht 12 Uhr.“ Dabei zeigte er uns die Augen der Katze, indem er deren Lider aufwärts schob. Wir sahen den Jungen erstaunt an, aber er war augenscheinlich im vollen Ernst, und die Katze, obgleich ihr die Operation unangenehm schien, war doch offenbar daran gewöhnt und benahm sich sehr verständig, als wäre es ihr eigentliches Geschäft, Uhr zu sein. Wir sagten: „Sehr gut, mein Junge, besten Dank,“ und lachten, da wir uns schämten, uns von dem Jungen belehren zu lassen. Als wir aber unsere Freunde fanden, war es unser Erstes, nach dem Sinne dieser Operation mit der Katze zu fragen. Sie wunderten sich sehr über unsere Unwissenheit und sammelten bald ein paar Dutzend Katzen aus der ganzen Nachbarschaft, um uns zu zeigen, daß die Uhren in deren Augen alle richtig gingen. Die Pupillen der Katzenaugen wurden bis Mittags 12 Uhr immer kleiner, und erreichen dann ihre engste Zusammenziehung in Form einer feinen Linie, wie ein Haar, perpendiculär über das Auge gezogen. Dann dehnt sie sich allmälig wieder aus, bis sie Nachts 12 Uhr die Form einer ziemlich großen Kugel erreichen. Man versicherte uns, daß jedes Kind bald eine große Fertigkeit und Genauigkeit in Angabe der Zeit aus den Katzenaugen erreiche. Wir selbst überzeugten uns sofort, daß die Uhren sehr richtig gingen und genau übereinstimmten. Wir wollen hoffen, daß wir mit Enthüllung dieser chinesischen Art, Chronometer und Uhren zu ersetzen, die edle Kunst unserer Herren Uhrmacher nicht beeinträchtigen. Minutenzeiger fehlen doch immer noch in den Pupillen von Hinz dem Kater und Suse der Katerine.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_364.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2023)