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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Album der Poesien.

     Die Kaiserin von Trapezunt.
 (1461.)
 Von Ludwig Storch.

Wer wandelt in des Tages erstem Grau
Durch’s Thor der Sultanstadt? – Der hohen Frau
Wird feucht der Fuß vom Morgenthaue.
Der Wind durchwühlt ihr härenes Gewand,
Und eine Haue trägt sie in der Hand.
Was will die Zarte mit der Haue?

Das ist kein Weib, das früh zu Acker geht!
Das ist ein Weib voll ernster Majestät!
Dort oben giebt’s kein Feld zu graben.
Sie klimmt so still und düstern Angesichts
Den Felsenpfad zur Statt des Hochgerichts,
Umkreist von Hunden und von Raben.

Im Westen hoch der Berge kahler Kranz,
Im Osten tief die Thürme von Byzanz
Und der Propontis blauer Spiegel.
Im Norden wälzt der enge Bosporus
Durch’s Felsenthor des Pontus schwarzen Fluß
Vorbei der Stadt der sieben Hügel.

Sie steht am Ziel. Hier starrt das Blutgerüst,
Auf dem ein Kaiserhaus erloschen ist,
Zwei hohe Männer und acht Knaben.
Am Boden liegt der Leichen bleiche Zahl.
Dazwischen Haupt und Haupt, ein kostbar Mahl
Der gier’gen Hunde und der Raben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_325.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)