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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Der erzählte Vorfall hatte meine Abreise verzögert. Es war beinahe Mittag als wir von Ragnit abfuhren.

Mich begleitete meine Frau. Sie hatte schon längst den Wunsch geäußert, das weite und wüste russische Reich, wenn auch nur auf ein paar Schritte weit an der Grenze, kennen zu lernen. Eine günstige Gelegenheit war jetzt dazu geboten. Russisch-Neustadt war nur etwa eine halbe Meile von der Grenze entfernt. Meine Geschäfte hielten mich dort nicht länger als einen halben Tag auf. Indem ich in amtlicher Eigenschaft die Grenze überschritt, und schon an dieser von dem gemeinschaftlich mit mir verhandelnden russischen Beamten empfangen wurde, waren auch für meine Frau Schwierigkeiten des Ueberschreitens nicht zu besorgen, Schwierigkeiten, deren es unter andern Umständen nicht wenige und nicht geringe gab. Außerdem waren in meiner Begleitung ein Secretär des Gerichts, der zugleich den litthauischen Dolmetscher machte, und ein Executor der Kreisjustizcommission. Der Secretär war ein schwächlicher, stiller, bescheidener Mann.

Der Executor Matz, der mich auf allen meinen amtlichen Reisen begleitete, war einer der tüchtigsten und zuverlässigsten Unterbeamten, die man im preußischen Dienste wohl je mag angetroffen haben. Furchtlos, entschlossen und rasch im Handeln, hatte er zugleich eine seltene Körperkraft. Im ersten Regimente, in welchem er früher als Sergeant gedient hatte, war er der stärkste Soldat gewesen. Er hätte es beinahe mit Friedrich Victor aufnehmen können. Dabei war er ein immer munterer, aufgeweckter Königsberger.

Bei unserer Abreise war er ungewöhnlich ernst, obwohl er durch sein Aussehen uns Andern beinahe zum Lachen reizte. Sonst auf der Reise nur mit einem russischen Kantschu versehen, trug er jetzt außerdem nicht nur seinen langen Dienstsäbel an der Seite, man sah auch unter seinem halbzugeknöpften Rocke ein Doppelterzerol hervorblicken.

„Was ist Ihnen denn heute eingefallen, Matz?“ fragte ich ihn. „Sie pflegen ja zu sagen, daß Sie mit dem Kantschu allein eine ganze Compagnie Litthauer von sich abwehren könnten.“

Er wurde roth.

„Es ist um der Frau Kreisjustizräthin willen,“ sagte er.

„Ausrede, Matz. Sie werden roth. Sie fürchten sich doch nicht?“

„Kennen der Herr Kreisjustizrath Furcht an mir? Vor wem sollte ich hier in Litthauen mich fürchten?“

„Nun, Trinkat, Victor, Merczus Lattukat.“

„Pah! Die Schufte reißen vor unser Einem aus, wie Schafsleder.“

„Aber warum denn diese Waffen?“

„Herr Matz,“ nahm der Secretär das Wort, „hat mir gestanden, daß es ihm in der That heute so etwas ganz sonderbar zu Muthe sei. Er wisse selbst nicht, warum. Es habe ihn innerlich dazu getrieben, die Waffen mitzunehmen.“

„Ja, ja,“ fügte der Executor hinzu, scherzend, als wenn er seinen Ernst dadurch vertreiben wollte. „Der Herr Secretär sagt recht. Es geht mir heute nicht besser als den Mördern und Brandstiftern, die auch immer einem innerlichen Triebe nicht haben widerstehen können.“

Er blieb indeß ernst, und wurde bei einem Anlasse auf der Reise sogar verdrießlich.

Wir hatten unseren Weg durch Tilsit genommen, dort die Schiffbrücke über die Memel passirt und die alte Landstraße nach der Stadt Memel verfolgt, bis zu dem Punkte, wo aus derselben die Landstraße nach Coadjuthen sich ausschied. Unser Reiseziel war für heute Coadjuthen, ein Marktflecken nahe an der russischen Grenze. Wir wollten dort übernachten, um von da am andern Morgen zeitig nach dem nicht mehr weiten Russisch-Neustadt aufzubrechen.

Ragnit liegt in einer fruchtbaren Gegend, eben so Tilsit. Man kann die Lage beider Orte schön finden, so schön, wie man überhaupt eine zwar hohe, aber flache Gegend, aber an einem breiten Strom, mit reichen Saatfeldern, fetten, grünen Wiesen, malerisch zwischen Gärten und Alleen gelegenen Landhäusern und einzelnen waldbedeckten Hügeln, sich darstellen kann. Auch das Thal zwischen Tilsit und Baubeln, jenseits der Memel, ist noch schön. Es bietet fortwährend reizende Aussichten auf die freundliche Stadt, auf den durch die Ebene sich krümmenden Strom, auf den alten, kahlen Rambinus, auf die fernen grünen schreitlauker Berge, und endlich auf das wunderhübsch auf der Höhe der das Thal schließenden Hügelkette, zwischen Gärten und Waldungen belegene weitläufige Gut Baubeln. So wie man aber auf dem Wege nach Memel dieses Gut hinter sich hat, hört mit einem Male alle Schönheit der Gegend auf. Die Landstraße – eine Chaussee gab es damals in Litthauen noch nicht – wurde dort, eben so wie jetzt die Chaussee, von einer weiten Sandhaide empfangen, die Plein genannt, um später, bis fast nach Memel hin, durch ähnlichen Sand oder durch nicht minder traurige Moorgründe sich weiter zu schleppen.

Die nahe vor der Plein seitab laufende Landstraße nach Coadjuthen sah und sieht noch keine bessern Gegenden. Man fährt zuerst an der Haide entlang, in tiefem Sande, zwischen sparsamen, verkrüppelten Fichten und noch sparsameren und noch verkrüppelteren menschlichen Wohnungen, Hütten von Lehm und Stroh, die sich kaum zehn Fuß hoch über der Erde erheben. So gelangt man zu einem kleinen Dörfchen, Powilken, an einem Flüßchen, die Wilke. Jenseits dieses Flüßchens wird die Gegend noch trauriger. Der Sandboden weicht einem bald grauen, bald braunen Moorgrunde, auf dem kaum jene verkrüppelten Fichten noch gedeihen wollen. Der Weg wird mitunter grundlos. Die Gegend wird menschenleerer. Nur in weiter Entfernung von der Landstraße entdeckt man hin und wieder eine verfallene graue Hütte, bis man nach einiger Zeit in eine dichte Waldung gelangt, die zu dem dingkener Forst gehört. In dieser trifft man keine einzige menschliche Wohnung mehr an. Das Erdreich ist zwar fester, die Landstraße aber ist ausgefahren und holzreich. Zu Ende der Waldung kommt man an einen einzeln stehenden Krug. Er gehört zu dem etwa eine halbe Viertelmeile entfernt liegenden Dorfe Peteraten. Es ist ein Krug, wie die meisten Krüge in den schlechteren Gegenden Litthauens, ein niedriges, schmutziges, halb verfallenes Gebäude von schlecht zusammengefügten Balken, das Dach mit grauem Stroh gedeckt. Hinter Peteraten beginnt wieder dürre Haidegegend, die sich bis Mädischkehmen, nahe vor Coadjuthen, hinzieht.

Der Weg von Tilsit bis Coadjuthen beträgt etwa fünf Meilen. Er gehörte in jener Zeit nicht zu den sicheren Wegen. Von der einen Seite war die Plein damals der Zufluchtsort vieles liederlichen und verbrecherischen Gesindels. Man hatte mehrere Jahre vorher von Seiten der Regierung Colonisten hergezogen, um diese Wüsteneien zu bebauen. Solche künstlich und gewaltsam gebildete Colonien der Regierungen werden in der Regel Verbrechercolonien. So war es auch in der Plein geworden, zumal unter dem Schutze des Terrains. Alle zehn Minuten etwa traf man auf eine Hütte; alle zehn Minuten auf ein Gebüsch von Fichten durchzogen von dichtem niedrigen Gestrüpp, Dornen, Brombeeren und Stechpalmen. Ueberall bildeten sich so natürliche Schlupfwinkel, und eine Verfolgung war um so schwieriger, als in dem tiefen, vom Winde ungleich auf- und zusammengewühlten Sande namentlich die berittene Gensd’armerie nur mit Mühe voran konnte. Von der andern Seite bot der weitläufige dingkener Forst eine große Herberge für Verbrecher und Gesindel aller Art dar. Sie erstreckt sich von der Plein bis zu dem Juraforst, und steht so wieder in Verbindung mit den großen Grenzwaldungen in Rußland, so wie nach Süden mit den fast an die Memel reichenden schreitlauker Waldungen.

In der Plein und deren Umgegend fielen damals häufig Räubereien und andere schwere Verbrechen vor. Von Peteraten bis Mädischkehmen war die Straße nicht minder unsicher. Besonders stand der unmittelbar an der Landstraße liegende Krug von Peteraten in keinem guten Rufe. Er lag dicht an dem Saume des dingkener Forstes, von dem Dorfe so weit entfernt, daß man dessen Gebäude nicht einmal sehen konnte. Andere menschliche Wohnungen waren im Umkreise mindestens eine halbe Meile nicht zu finden.