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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Schwarzbart spiele, der in Wirklichkeit nirgends existirte. Zumal bei der Bestechlichkeit der russischen Behörden ging dies leicht an. Meine Requisitionsschreiben an die russischen Behörden bezüglich des Schlom Schwarzbart waren nicht einmal beantwortet worden. Mein Freund war bald nach meiner Ankunft in Litthauen nach Odessa versetzt. Ich gab dennoch die Hoffnung näherer Ermittelungen nicht auf. Von einer mündlichen Besprechung mit russischen Beamten erwartete ich Resultate. Die Grenze nach Preußen durfte zwar ohne Befehl oder Erlaubniß unmittelbar aus Petersburg kein russischer Beamter überschreiten. Desto häufiger führten mich meine Amtsgeschäfte nach Rußland hinüber. Aber immer waren es nur Untersuchungen über Grenzexcesse, die ich bisher dort zu führen gehabt hatte. Sie wurden nur mit den russischen Zollbeamten gemeinsam geführt. Und diese Zollbeamten hatten mit der übrigen Rechts- oder Polizeipflege nichts zu schaffen. Sie wußten daher auch nichts von einem Schlom Schwarzbart oder Schlom Weißbart, oder wollten nichts davon wissen.

Endlich traf es sich, daß in einer Untersuchung gemeinschaftlich mit einem Kommissarius des Landesgerichtes in Rossiena verhandelt werden mußte. Ein junges Mädchen aus einer angesehenen Bauernfamilie in der Nähe von Neustadt hatte ihr neugeborenes Kind ermordet, aus Wuth, weil ihr Verführer sie nicht heirathen wollte. Sie war in Neustadt verhaftet. Sie sollte an das Landesgericht in Rossiena abgeliefert werden. Der Weg von Neustadt nach Rossiena führte nahe an der preußischen Grenze vorbei. Hierauf hatten die Verwandten des Mädchens einen Befreiungsplan gebaut. Sie hatten sich mit preußischen Unterthanen an der Grenze vereinigt. Als der Wagen, auf dem das Mädchen, mit der Kindesleiche transportirt wurde, in die Nähe der Grenze kam, wurde er von einer großen Menge überfallen, und die Mörderin mit der Leiche nach Preußen geschafft. Die Transporteuere waren freilich mit im Einverständnisse gewesen. Die Verbrecher wurden ermittelt, sowohl in Rußland als in Preußen. Es entspann sich eine verwickelte Untersuchung, die mehrfach, um der vorzunehmenden Lokalbesichtigungen, Confrontationen u. s. w. willen, von den preußischen und russischen Behörden gemeinschaftlich geführt werden mußte. Die Verhandlungen wurden in Russisch-Neustadt aufgenommen. Der erste Termin war auf einen Tag im Anfang October verabredet.

Am frühen Morgen dieses Tages ereignete sich ein Vorfall, den ich hier ausführlicher erzählen muß, weil er von wesentlichem Einfluß auf die weiteren Thatsachen dieser Geschichte ist.

Es war noch dunkel, als heftig an meine Hausthür geklopft wurde. Gleich darauf wurde mir angezeigt, daß ein Beamter aus den Gefängnissen da sei, der mir eine eilige Meldung zu machen habe. Ich stand sofort auf und ließ den Beamten eintreten. Er kam mir mit der Nachricht entgegen, daß in der Nacht zwei der gefährlichsten Verbrecher ausgebrochen und entkommen seien, der Räuber Friedrich Victor, ein Deutscher, und der Raubmörder Armons Trinkat, ein Litthauer.

Trinkat war ein Genosse des berüchtigten Räubers und Mörders Merczus Lattukat. Er war mit diesem vor wenigen Monaten beinahe auf frischer That ergriffen, als Beide einen Pferdehändler, der von dem Jahrmarkte in Heidekrug zurückgekehrt war, erschlagen und beraubt hatten. Merczus Lattukat war auf dem Transporte nach Ragnit entsprungen und nach Rußland entkommen. Trinkat hatte in der Untersuchung sich als einen versteckten, scheinheiligen Bösewicht bewiesen. Er leugnete Alles ab, auch die erwiesensten Thatsachen. Im Gefängnisse las er stets die Bibel. In den Verhören weinte er über die Sündhaftigkeit der Menschen, die es wagten, einen so unschuldigen Mann wie er sei, anzuklagen und zu verleumden, und mit ihren Lügen noch sogar durch einen Eid unmittelbar vor das Angesicht des himmlischen Vaters, des Gottes der Wahrheit und Gerechtigkeit, zu treten.

Ein noch weit gefährlicherer und frecherer Bösewicht war Friedrich Victor. Er war ein Mensch mit einer athletischen Figur, von gleicher Körperkraft und nicht minder großer Behendigkeit des Körpers. Seit Jahren hatte er nicht nur die Grenze durch Raub und Diebstahl unsicher gemacht, sondern auch seine Verbrechen meilenweit tiefer in das Land hineingetragen. Mehrere Male hatte er zu der Bande der beiden Juden Schlom gehört. Sein wilder, unbändiger, händelsüchtiger Charakter hatte ihn aber nicht lange dort gelitten. Immer jedoch aber war er zu ihr zurückgekehrt. In der Zwischenzeit hatte er sein Handwerk auf seine eigene Hand oder mit aus dem Stegreif zusammengerafften Genossen getrieben. Das Bewußtsein seiner ungeheuren Körperkraft, sein große Verwegenheit und seine Nichtachtung jeder Gefahr hatten mehrmals die Folge gehabt, daß er ergriffen war. Immer aber hatte er sich zu befreien gewußt, bevor er in die festen Gefängnisse der Kreisjustizcommission hatte können abgeliefert werden. Die festesten Mauern der Gefängnisse der Untergerichte – allerdings nicht im besten Zustande – waren ihm nicht zu fest, die stärksten Ketten ihm nicht zu stark gewesen. Ueberall hatte er seiner Ketten sich zu entledigen gewußt; überall war er ausgebrochen; immer auf äußerst freche, zuweilen auf unbegreifliche Weise. Auf jedem Transporte war er entkommen, durch Gewalt oder durch List, wenn er nicht mit der größten Vorsicht durch mehrere Gensd’armen war transportirt worden. Endlich war es geglückt, ihn nach Ragnit zu schaffen. Ich fand ihn schon vor, als ich dort hinkam. Er war unstreitig der wildeste, unbändigste und gefährlichste unter allen Verbrechern, die in dem alten Ritterschlosse verwahrt gehalten wurden. Wenn ich die ungewöhnlich hohe und breite Figur mit den starken Knochen, den wilden, stets rollenden dunkeln Augen, dem schwarzen wolligen Haar ansah, so kam er mir immer vor, wie eine ungeheure, unbändige Tigerkatze, die nur immer darauf sinnt, die schweren eisernen Stäbe ihres Käfigs zu zerbrechen, um in fürchterlicher Wuth und Blutgier Alles zu zerstören und zu vernichten, was ihr in den Weg komme.

Eine ingrimmige Wuth gegen die sämmtlichen Beamten des Gerichts und der Gefängnisse hatte er öfters unverholen ausgesprochen, besonders gegen mich.

Er hatte, seitdem ich mein Amt in Ragnit angetreten, zweimal den Versuch gemacht, aus dem Gefängnisse auszubrechen. Das eine Mal hatte er den Ofen durchbrochen, das andere Mal mit einer staunenswerthen Beharrlichkeit die dicke Mauer des alten Schlosses. Sein Entkommen war jedesmal daran gescheitert, daß er, mit der inneren Einrichtung des Schlosses unbekannt, den Ausweg nicht hatte finden können.

Schon gleich nach dem ersten Versuche hatte ich strengere Verwahrungsmaßregeln gegen ihn für meine Pflicht halten müssen. Ich hatte ihn, anstatt daß er bisher in Ketten eingeschlossen war, in schwerere Ketten einschmieden lassen. Wie früher das zerbrechlichere Schloß, so hatte er bei dem zweiten Fluchtversuche die Kette selbst zu zerbrechen gewußt. Ich ließ ihn darauf in noch stärkere Ketten einschmieden und ihm zugleich Hörner anlegen. Dies bestanden aus zwei geschweiften eisernen Stäben, die an einem eisernen Ringe befestigt waren. Der Ring wurde um den Hals gelegt, so daß die beiden Hörner ihm zu beiden Seiten abstanden. Es wurde ihm dadurch das Kriechen durch Maueröffnungen unmöglich; er hätte diese denn viel größer und weiter brechen müssen, als es irgend gefürchtet werden konnte. Er hatte in der That seitdem einen weiteren Fluchtversuch nicht gemacht. Die ungewöhnlichen Fesseln schienen sogar der Unbändigkeit seines Charakters zu Fesseln geworden zu sein. Er war stiller, gehorsamer im Gefängnisse geworden. Er bat demüthig, in von dem schweren Eisen zu befreien, und versicherte dabei hoch und theuer, nie an einen Versuch der Flucht wieder denken zu wollen. Ich hatte mich zuletzt dazu verstanden, ihm wenigstens die Hörner abzunehmen, nicht weil ich seinen Versprechungen traute, sondern weil mir seine Gesundheit unter dem Tragen der schweren Stangen am Halse zu leiden schien. Er hatte mich, wie ich mich jetzt überzeugte, auch darin getäuscht.

Diesen beiden gefährlichen Verbrechern war es geglückt, zu entkommen.

Victor und Trinkat hatten gemeinschaftlich in einer Zelle oben im vierten Stocke des Gefängnisses gesessen. Ich hatte sie eben um ihrer Gefährlichkeit willen in diese Höhe bringen lassen, wo sie, nächst den Kellergefängnissen, am Sichersten verwahrt waren. Der Korridor war dort fest abgesperrt. Nach unten durchzubrechen, war eine Unmöglichkeit. Ein Ausbruch nach oben konnte sie nur auf die Zinne des alten Schlosses führen. Ein Fortkommen von dieser erschien mir aber völlig unmöglich. Das Schloß war über siebenzig Fuß hoch. Die Mauern ragten noch von dem Brande her zerrissen und nackt in die Höhe. Es war auf der schwindlichen Höhe kein Gegenstand, an dem Jemand sich festhalten konnte. Die Steine lagen bröcklig. Selbst eine Strickleiter oder ein ähnliches Instrument schien kaum angelegt werden zu können. Man hätte sie nur an den Mauersteinen befestigen können, deren Weichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_270.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)