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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

No. 19. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Schlom Weißbart.

Ein Bild aus Litthauen.
Vom Verfasser der schwarzen Mare.


Im Jahre 184– traf ich in Litthauen einen Landsmann und Bekannten wieder, der vor länger als zwölf Jahren dahin versetzt war, und von dem ich seit jener Zeit nichts wieder vernommen hatte. Ich war begierig, von ihm über sein Leben in dem fremden Land selbst und dessen Bewohner Auskunft zu erhalten.

Ich werde Dir – sagte er – ein Abenteuer erzählen, das ich nicht lange nach meiner Ankunft in dieser Provinz zu bestehen hatte, und das vielleicht mehr als lange, ausführliche Beschreibungen im Stande sein wird, Dich dessen Menschen und Zustand kennen zu lehren. Er erzählte mir Folgendes:

Ich wurde im Jahre 183– als Kreisjustizrath nach Ragnit versetzt. Ich war damals Assessor bei dem Oberlandesgerichte in A., und bisher blos in meiner Heimath, der Provinz Westphalen, angestellt gewesen.

Als ich mit den Meinigen in Ragnit ankam, fanden wir ein freundliches Städtchen, hübsch gelegen in einer fruchtbaren Gegend, an einem hohen Ufer des schönen, breiten Memelstroms, der nicht weit unterhalb der Stadt eine große Krümmung machte, so daß man seinen Lauf mitten durch üppige Wiesen und Weiden beinahe eine halbe Meile weit deutlich verfolgen konnte, bis nach dem alten, kahlen Rambinus hin, dem alten Berge des Gottes Perkunos, an dessen Fuße er wieder eine andere Richtung nahm, nach der litthauischen Hauptstadt Tilsit zu, anderthalb Meilen von Ragnit gelegen.

In dem freundlichen Städtchen auf dem hohen Memelufer fanden wir allerdings nicht viel mehr als 3000 Einwohner; aber es war ein eben so tüchtiger und prächtiger deutscher Menschenschlag, wie man ihn nur irgend wo am Rhein und in Westphalen antrifft. Barbaren, wie sie mir geschildert waren, schienen mir die Leute nicht, und auch die Wölfe liefen in ihren Straßen nicht mehr herum, als anderswo, nämlich die in Schafspelzen; dies aber brauchten – wenigstens damals noch – eben keine russischen oder preußischen Wölfe zu sein. Dagegen fanden wir in Litthauen und Ragnit Etwas, was wir in unserm vielbewegten Leben später niemals in so hohem Grade wieder gefunden haben, eine offene, biedere, gastfreundliche Zuvorkommenheit. Sie lebt in unserem dankbaren Andenken.

Was eine Kreisjustizcommission sei, erfuhr ich sehr bald in vollem Umfange. Der Kreisjustizrath v. L., den abzulösen ich bestimmt war, hatte dem Gerichtsboten, der ihm zuerst die Nachricht meiner Ankunft und seiner Erlösung überbracht hatte, in der Freude seines Herzens einen harten Thaler geschenkt. Es war ein braver, aber kränklicher Mann, zwar ein tüchtiger Beamter, der aber gerade gegen die Art von Geschäften, wie sie bei der Kreisjustizcommission waren, vielleicht auch in Folge seiner Kränklichkeit, einen unüberwindlichen Widerwillen gefaßt, deshalb kaum einige Monate nach Antretung seines Postens, seine Versetzung nachgesucht und diese in einer untergeordneten Stelle in seiner Heimath angenommen hatte.

Das Institut der Kreisjustizcommission bestand nur in den Provinzen Preußen und Litthauen. Im Jahre 1839 haben sie einer veränderten Gerichtsorganisation Platz machen müssen. Sie waren Deputationen der Oberlandesgerichte zur Führung der schweren Criminaluntersuchungen, zur Führung und Entscheidung der geringeren Civilprozesse gegen die Eximirten (Adel, Geistlichkeit und Beamte) und zur Beaufsichtigung der Untergerichte. Sie bestanden aus einem Kreisjustizrath als Dirigenten, einem Assessor (auch Aktuar genannt) und dem nothwendigen Subalternpersonal an Gerichts- wie Gefängnißbeamten. Die Kreisjustizcommission zu Ragnit war eine solche Deputation oder Commission des Oberlandesgerichts zu Insterburg für die vier Landrathskreise Ragnit, Tilsit, Niederung, Heidekrug. Ihr Geschäftsbezirk berührte auf einer Länge von ungefähr zwölf Meilen die russische Grenze und außerdem noch auf mehreren Meilen die Grenze des unglücklichen Königreichs Polen.

Das gerade war es, was die Stellung bei der Commission für meinen Vorgänger zu einer unerträglichen gemacht hatte, was sie freilich für mich zu einer sehr mühsamen machen sollte. Wo die Regierungen den freien Verkehr sperren und hemmen, da erreichen sie wenigstens Eins sicher, Demoralisation des Volkes. An der preußisch-russischen Grenze wird vielfach gesperrt und gehemmt, diesseits wie jenseits. Nach Rußland darf aus Preußen nichts hineinkommen, was die Leute dort bedürfen und gebrauchen, nicht Fisch noch Fleisch, nicht Seide noch Zeug, nicht Kaffee noch Zucker, nicht Wein noch Schnaps, nicht Thee noch Civilisation. Und aus Rußland nach Preußen darf zweierlei nicht kommen. Eins nicht, das die Leute in Preußen gebrauchen: Salz. Und doch kaufen sie es in Rußland um das Doppelte wohlfeiler als in Preußen selbst, nämlich das Pfund für sechs Pfennige, wenn sie in Preußen dafür einen Silbergroschen bezahlen müssen. Und die Leute behaupten, das sei um so mehr ein unrichtiges Verhältniß, als es eben nur preußisches Salz, das gleiche preußische Salz sei, das sie so wohlfeil in Rußland kaufen können und so theuer in Preußen bezahlen müssen, Salz, das die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_241.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2021)