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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

„Das mag wahr sein oder nicht, der Baum geht Ihn nichts an, der gehört der Gemeinde. Er hat einen Gulden Strafe zu erlegen, und wenn er das nicht kann, vierundzwanzig Stunden Haft im Gemeindekoben bei Wasser und Brot. Dann kann Er hingehen, wohin Er will, meinetwegen, woher Er gekommen ist; denn in Laubenhain hat Er kein Heimatsrecht mehr. Wir haben hier des armen Gesindels genug und können keine Vagabunden brauchen. Bezahl’ Er den Gulden und scheer Er sich fort; ich duld’ ihn keinen Tag im Orte. Wenn Er nicht freiwillig geht, lass’ ich Ihn in’s Amt transportiren, das bringt Ihn per Schub aus dem Lande. Wird Er zahlen?“

Der Alte schüttelte mit dem Kopfe. Zwei große Thränen glitten langsam auf seinen verwitterten Wangen herab.

„Na, denn fort in’s Loch!“

Der Gemeindediener und respective Nachtwächter führte den Delinquenten auf gestrengen Befehl ab. Es war ein etwas vergrößerter Hundestall, in welchen er gestoßen wurde. Der Büttel erlaubte sich rohe Scherze mit ihm; der Alte schwieg.

Es war schon finstre Nacht, als der Diener ihm ein Stück hartes verschimmeltes Brot und einen defecten unsaubern Krug mit Wasser brachte.

„Hört, guter Freund Nachtwächter,“ sagte der Gefangene mit wunderbar zitternder Stimme (sie klang wie der Ton einer zerreißenden Saite), „ich will Euch den Gulden für den Schulzen und noch einen halben für Euch zahlen, laßt mich frei. Es ist mir unwohl geworden. Ich will in dieser Nacht noch fort gehen und nicht wieder kommen.“

„Das kann ich nicht für mich thun. Ich muß es dem Herrn Schulzen melden. Gebt das Geld her, Alter!“

Der Gefangene zahle, der Nachtwächter ging. Nach einer langen, bösen Stunde kehrte er zurück.

„Der Herr Schulz saß in der Schenke, da läßt er sich nicht nicht gern stören. Er läßt Euch anbefehlen, Euch nicht wieder hier betreten zu lassen, bei Strafe der Ausweisung auf dem Schub.“

Der alte Mann schüttelte die Glieder, als er auf der Straße stand. Er verließ in der finstern Nacht das Dorf, aber sein Schritt war nicht mehr so sicher und fest, als wie er hereingekommen war. Doch fand er den Pfad wieder auf den Kindelberg, doch fand er seinen Kindelbaum wieder in der dunkeln Nacht. Er brauchte ihn gar nicht zu suchen, er hatte ihn gleich, als ob ihn eine höhere Eingebung führte. Und nun kniete er an dem Baume nieder und weinte. Vielleicht betete er auch. Endlich umarmte er den Baum. –

Am andern Morgen meldete der Gänsehirt sehr eilig beim Schulzen: auf dem Kindelberge liege ein todter Mann. Der Gemeindediener und Nachtwächter, welcher auch Todtengräber war, wurde dorthin beordert. Der alte „Vagabund“ lag unter seinem Kindelbaum todt, hielt ihn aber noch mit beiden Armen umschlungen. Ein Haufen Dorfjugend umstand die Leiche und trieb ihren Spott damit; die Rangen wußten schon, daß es der Försters-Flipp war, von dem sie so fabelhafte Dinge gehört. Gestern Abend war in allen Häusern die Rede von diesem „curiosen Menschen“ gewesen, der so weit her und so alt und arm wieder gekommen war. Der Schöpf stellte sich auch ein, um einen Bericht an’s Amt aufzunehmen. Auf seinen Befehl trugen der Todtengräber und der Hirt die Leiche auf einer Tragbahre in den Gemeindekoben.

„Durchsuch’ seine Taschen!“ herrschte der Schöpf dem Nachtwächter zu. „Vielleicht findet sich so viel bei ihm, was ein schlechter Sarg kostet.“

Der Todtengräber zog eine ziemlich volle Börse, ein prächtige goldne Uhr und ein rothsaffianes Portefeuille hervor und überreichte es dem staunenden Schöpfen.

„Hör’,“ sagte dieser heimlich, „das bleibt unter uns; verstehst Du mich. Da hast Du einen blanken Thaler.“

Den nahm der Schöpf aus der Börse des alten „Vagabunden“ und ließ sie dann sammt der Uhr schnell in seiner eigenen Tasche verschwinden. Mit den Papieren, welche er in dem Portefeuille fand, konnte er nicht so schnell fertig werden. Dergleichen war ihm noch nicht vorgekommen. Er verfügte sich damit zum Schulzen. Dieser war schon besser damit bewandert. Als der gewaltige Dorfregent sämmtliche Blätter durchgesehen hatte, sagte er:

„Hör’, Valtin, das muß unter uns bleiben. Verstehst Du mich! Das fällt mit in den Gemeindesportelkasten. Ich gebe Dir fünfzig Thaler. Du hältst das Maul, und wir lassen Gras darüber wachsen.“

Der Schöpf hielt die Hand auf und sagte kein Wörtchen von der Uhr und der Börse. Der Schulz zahlte, und am andern Morgen wurde der „alte Vagabund“ in einem schlechten, rohen Kasten vom Todtengräber und dem Hirten auf den Gottesacker getragen und an der Mauer verscharrt. Der Schulz und der Schöpf gingen nach der Stadt und nahmen dort im ersten Gasthofe den Koffer des alten Herrn in Beschlag. Daheim angekommen, theilten sie, was sich darin vorfand. Die ganze Gemeide hatte ihr rohes, albernes Gespött über den Försters-Flipp, der als ein Vagabund am Kindelberg „verreckt“ war und nun an der Kirchhofmauer lag. So weit, meinten sie, könne es Jeder bringen. Dazu brauche man nicht in die weite Welt zu gehen.

Die Sache schien damit abgethan, aber sie war’s nicht. Der Todtengräber hatte die Börse in der Hand gehabt und ihren Inhalt überschläglich taxirt, als daß es ihn nicht hätte ärgern sollen, daß er nur einen Thaler von der Erbschaft erhalten. Der Schöpf war doch nicht gar zu dumm und hatte die Zettel im Portefeuille auch angesehen und überzählt, und es wurmte ihn je länger, je mehr, daß er sich hatte mit fünfzig Thalern abspeisen lassen. Der Todtengräber steckte die Geschichte seinem guten Freunde, dem Amtsdiener, und der Schöpf steckte sie seinem guten Freunde dem Amtsschreiber. Aber der Amtmann war der gute Freund des Schulzen. Der Schulz lachte den Schöpfen aus und der Schöpf den Nachtwächter. Alles war und blieb still von der Erbschaft des alten Vagabunden, aber in’s Ohr flüsterten sich die Leute seltsame Dinge davon.

Plötzlich wurden in einer Nacht der Amtmann, der Schulz, der Schöpf und der Nachtwächter verhaftet und in’s Kriminalamt gebracht, bei Allen auch genaue Haussuchung gethan. Da fand sich denn ein Testament Philipp Raab’s, worin er die Gemeinde seines Geburtsorts Laubenhain zum Erben seines ungeheuern in Surinam erworbenen Vermögens eingesetzt. Der Schulz hatte dieses in Banknoten bestehende Vermögen unterschlagen und später dem Amtmann einen Theil abgegeben.

Zufällig war der alte Vagabund, eh’ er seinen Geburtsort aufgesucht, in der Residenz bei einem Banquier gewesen, und hatte mit demselben über seine Geldangelegenheit conferirt. Dieser hatte später von dem Tode und der Begräbnißart des steinreichen Mannes gehört und den auf der Hand liegenden Betrug bei der Landesregierung angezeigt. Durch einen gewandten Polizeimann war diese über den Vorfall in genaue Kenntniß gesetzt worden. Der Amtmann kam mit Verlust seiner Stelle und halbjährigem Gefängniß davon; der Schulz erhielt zehnjährige Zuchthausstrafe und mußte den Raub herausgeben, der Schöpf kam ein Jahr in’s Zuchthaus, der Nachtwächter ein Vierteljahr. Die Gemeinde Laubenhain trat die reiche Erbschaft an; sie wurde dadurch die reichste im Lande. Die Leiche des „edlen Menschenfreundes“ wurde ausgegraben und prächtig geschmückt in einen kostbaren Sarg gelegt. Auf Befehl der Regierung wurde ihm das Grab unter seinem Kindelbaume bereitet und mit Quadern ausgemauert. Das ganze Dorf ging mit zur Leiche, das Amtspersonal und eine Commission der Regierung. Der Superintendent hielt in der Kirche eine lange Predigt über der Leiche des Wohlthäters und rühmte seine Verdienste, der Pfarrer eine rührende Rede am Grabe.

Vier Wochen später stand ein herrliches Monument von Stein auf dem Grabe.

Das sind die Menschen unserer Tage!

L. St. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_232.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)