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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

mir ein Lebewohl zu sagen – ohne daß er es wußte, was der Brief enthalte, der, wie Ihr seht, an einen Lianares, an einen Verwandten von mir, adressirt ist, verbarg ich ihm das Schreiben in seiner Kleidung. – Er ist unschuldig wie das Licht der Sonne – wie das neugeborne Kind auf dem Schooß der Mutter –“

Ramon, der unten am Ende des Zimmers zwischen zwei Unteroffizieren stand, hatte ihrer Rede mit dem Ausdruck des Entsetzens zugehört. – Bei dieser Selbstanklage erstarrte ihm das Blut in den Adern, er kannte die Strenge der französischen Militärgesetze.

„Mein General,“ rief er in peinlicher Angst, „hört nicht auf die Worte dieses armen Mädchens, dem der Schmerz über mein Geschick das klare Licht der Vernunft geraubt! – Ich, ich allein bin der Schuldige, ich wußte was der Brief enthielt – ich wollte das Vergehen gegen mein Land wieder sühnen, den Verrath gegen Spanien, durch Verrath gegen Frankreich tilgen.“

Bei den letzten Worten, die der unglückliche mit sichtlicher Anstrengung gesprochen, wurde er todtenbleich und seine Knie bebten; um seine Dolores zu retten, opferte er den letzten Rest seiner Ehre. – Was er von dem Sühnen des Verraths sprach, war nicht wahr, nur aus Liebe zu Dolores hatte er den Brief übernommen. – Das junge Mädchen aber rief:

„Glaubt ihm nicht, glaubt ihm nicht – er will sich opfern, um mich der verdienten Strafe zu entziehen, aber Ihr werdet gerecht sein, General, und keinem Unschuldigen das büßen lassen, was ich verbrach.“

Der General und die Officiere sahen sich gerührt an – aber der Fall wog zu schwer – das offene Geständniß Don Ramon’s lag vor, überdies durfte man schon um des Beispiels willen solche Vergehen nicht ungeahnt lassen, das Kriegsgericht erkannte einstimmig auf „Tod durch die Kugel.“ – Bei diesem Ausspruch stürzte Dolores mit einem herzdurchdringenden Schrei an Don Ramon’s Brust, preßte ihm einen letzten Kuß auf die Lippen und sank dann bewußtlos nieder. Ihre herbeigeholten Verwandten trugen sie in ihre Wohnung.

Eine Stunde später tönte dumpfer Trommelwirbel durch die Straßen, es war das Commando, welches Don Ramon hinaus vor die Stadt führte, zur Execution. Der Lieutenant, der das Peloton befehligte, ging mit düsterem Blick an der Spitze des Zugs, Don Ramon war sein Freund. – Aber er mußte seine traurige Pflicht erfüllen, denn man hatte es ihm befohlen. An der Stelle angelangt, wo schon eine tiefe Grube gegraben war, flüsterte der Verurtheilte dem Lieutenant noch ein paar Worte in’s Ohr, dann trat er an die Grube, und das weiße Tuch, welches ihn die Augen bedecken sollte, zurückweisend, kommandirte er mit fester Stimme: „Feuer!“ – Die Grenadiere hatten gut gezielt, er fiel ohne Laut. – Dann kommandierte der Offizier: „Gewehr auf!“ und das Peloton marschirte wieder zurück, während der Leichnam in der Grube, in welche er gefallen, liegen blieb – unbedeckt, ohne eine Hand voll Erde – des Beispiels willen und zur Abschreckung, wie der Befehl des Generals lautete. – Aber am anderen Tag war der Leichnam verschwunden.

Bauern, die vorübergegangen waren, behaupteten am Abend als der Mond hinter den Gebirgen aufgestiegen war, eine seltsame Gestalt um den Leichnam herum irren gesehen zu haben. Andere wollten ein junges Mädchen mit lose flatterndem Haar in der Nähe der Grube gesehen haben, dabei ein traurig klingendes, altspanisches Liedchen singend – mit eigenthümlicher Melodie, die wie das Lied einer Wahnsinnigen geklungen habe.

Mehrere Tage später fanden spanische Soldaten in der Tiefe einer Schlucht, unweit des Guerva ein junges, schönes Mädchen, halbnackt, mit blutigen Händen und Füßen, einen schon zum Theil in Verwesung gegangenen Leichnam bewachend. Sie sang dabei ein Lied, und als sich die Soldaten näherten, suchte sie ängstlich mit dem Leichnam, den man ihr, wie sie glaubte, rauben wollte, zu entfliehen. – Aber die Soldalen holten sie ein und brachten sie in das Irrenhaus zu Saragossa. Dort blieb sie einige Tage und wurde eines der Opfer, die bei dem Brand des Irrenhauses – durch das französische Bombardement – umkamen. Es war Dolores.“


Der Kapitain schwieg und stand auf, drückte mir schweigend die Hand und wollte fort.

„Noch ein Wort,“ bat ich.

„Sprechen Sie.“

„Wie kamen Sie in den Besitz des Briefchens von Dolores an Don Ramon, das Sie mir zeigten – es waren Blutflecke darauf?“

„Ich fand es in der Brieftasche des Unglücklichen, die ich ihm unmittelbar nach der Execution aus der Uniform nahm, um sie seiner Mutter zuzustellen. Es ist das einzige, was ich als Andenken an meinen unglücklichen Freund behalten. Ich war der Lieutenant, der das Executionscommando kommandirte.“

Karl Wartenburg. 




Die Sturmfluth von der Elbmündung bis Hamburg.
am 1. Januar 1855.

Von den Verwüstungen, welche in jüngster Zeit die Ueberschwemmungen anrichteten, laufen aus allen Gegenden die traurigsten Berichte ein. Die Noth der von diesem Schicksale betroffenen Städte und Dörfer nimmt die allgemeine Theilnahme in Anspruch und fordert zu wohlthätigen Spenden auf. Diese schreckenerregenden Ereignisse erinnern uns an die furchtbaren Neujahrsnächte Hamburgs und Umgegend, von denen wir nach den Mittheilungen eines bekannten Landschaftsmalers, dem wir auch die beiden nach der Natur aufgenommenen Ansichten verdanken, nachträglich noch eine Schilderung geben.

Schon am letzten Tage des alten Jahres steigerte ein heftiger Sturm die eintretende Fluth der Elbe zu einer solchen Höhe, daß die niedrig gelegenen Stadttheile Hamburgs unter Wasser gesetzt wurden. Ein großer Theil der Bewohner mußte ein anderes Unterkommen suchen. Man gab sich der Hoffnung hin, daß mit dem Eintritte der Ebbe die Wassermasse in das gewöhnliche Bett zurücktreten würde; diese Hoffnung war umsonst, denn in der Nacht vom 1. bis 2. Januar tobte ein gewaltiger Orkan vom Meere her, der den Strom der Elbe zur Umkehr, und da er neue, riesenhafte Wassermassen mit sich führte, auch zur weitern Ueberschreitung der Ufer zwang. Der Strom schwoll zu einem Meere an, und der Wasserstand erreichte eine Höhe von mehr als 21 Fuß. Traurige Berichte liefen von den Küsten der Nord- und Ostsee ein. Ganze Schiffe, die dem heimatlichen Strande nicht mehr fern, verschwanden mit Mann und Maus. Der Georg Canning, das größte und schönste Packetschiff des Rheders Slomann, kam von New-York zurück. Schon hatte es die Mündung der Elbe erreicht, als es von Sturm und Wellen ergriffen und vernichtet ward. Fünfundzwanzig Mann Besatzung und fünfundsiebzig Passagiere gingen mit ihm zu Grunde. Später warfen die Wellen die Schiffspapiere, die Büchse des Steuerrades und die auf ein Brett gebundene Leiche eines Kindes bei Kuxhafen an das Ufer.

Im Schleswig’schen richtete die Eider große Verheerungen an, doch beklagt man in dem unteren Stromgebiete, da sich hier die Fluth widerstandslos ausbreiten konnte, nicht so viele Verluste; mehr Schaden richtete der Sturm an, der, um ein Beispiel anzuführen, einen neuen Flügel des Schlosses Gottorf von 107 Fuß Länge einstürzte. Ein furchtbares Gewitter, aus den gewaltigen Schwingen des Orkans herbeigeführt, vermehrte die Schrecken durch zuckende Feuer und Erde und Himmel erschütternde Donnerschläge. Zu Hohn bei Rendsburg fuhr ein Blitz in die Kirche, ohne zwar zu zünden, aber er verletzte mehre Personen.

Am Schwersten wurde jedoch das schmale Stromgebiet oberhalb Hamburg heimgesucht. Hier, wo man jeden Fuß Landes mühsam dem Strome abgerungen, und durch Deiche, (hohe, starke Erddämme) schützt, war der Wasserstand um 1 Fuß höher als am Ausflusse der Elbe. (Kuxhafen 20′ 7″ Hamburg 21′ 4″.) Die fruchtbare Inselgruppe Vierlanden, die im Sommer einem reizenden Gemüse- und Obstgarten gleicht und das Auge durch einen prachtvollen Blumenflor entzückt, bot in den ersten Tagen des Januar

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_167.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)