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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

und lieblichen Thälern, und rasch flog das Flachland vor des ehemaligen heiligen, römischen Reiches Streusandbüchse an meinen durstigen Blicken vorüber. Endlich lag Schlesien vor mir – zwar nur ein Schattenbild jener blühenden Provinz, die Friedrich als ein kostbares Kleinod in’s Diadem der Hohenzollern reihte, und doch schön in dem üppigen Glanze des Sommers, denkwürdig durch Wahlstätten, auf denen das Geschick manches Jahrhunderts ausgekämpft wurde, von Strömen durchschnitten, von Bergen umkränzt, lebendig und rührig in dem modernen Geiste der Industrie, traulich in der poetischen Stille der Natur, die nur von dem Rauschen der Tanne und dem Sturz des Gießbachs unterbrochen wird. Nur wenige Meilen noch, und ich sollte die Berge betreten; nur wenige Stunden Aufenhalts noch in der zweiten Haupt- und Residenzstadt Preußens. Breslau war nie mein Lieblingsort gewesen, und ich schlenderte fast widerwillig, nur des Zeitvertreibes halber vom Bahnhofe aus der Stadt zu; allenfalls knüpfte sich mein Ideengang an die beiden schmackhaften Extreme, ein Glas guten, alten Ungarnweines und eine Portion trefflichen, russischen Caviars, der eines Racenkampfes würdiger wäre, als die diplomatischen Schachzüge zwischen Nesselrode und cher Aberdeen. Doch mein Herz sehnte sich, einmal für kurze Zeit der Menschengesellschaft Valet zu sagen, Luft und Licht zu empfangen wie der vegetirende Baum, sich zu recken wie die schlummernden Riesen des Gebirges und wie die spritzende Woge des Bergquelles in lauter Lust und Uebermuth zu schäumen. Schon also stand ich an der Schwelle, die mich aus einer halbverlebten Gesellschaft in die Frische des Naturlebens führen sollte – da bannte mich ein hohes, steinernes Fragezeichen, was weiß ich’s – ein Palast der Gerechtigkeit oder des Elends – genug, mein Fuß sträubte sich vorüber zu gehen an den Mysterien unseres Geschlechtes, und mein Dämon zwang mich, von der Gesellschaft, der ich eine kurze Frist des Vergessens abstehlen wollte, das düstere Nachtstück in Augenschein zu nehmen.

Nur wenige hundert Schritte von dem niederschlesisch-märkischen Bahnhofe liegen zwei Casernen. Die eine, allen denen bekannt, die Breslau vor Jahren einmal besuchten, dient einem Cavallerieregiment; die andere ist kürzlich erbaut, groß und räumig genug, um mehr als tausend Menschen zu umfassen, die in einem schweigsamen, traurigen Exercitium wehr- und waffenlos unter den strengen Fahnen der beleidigten Gerechtigkeit dienen. Heiter genug ist der Ton des colossalen Gebäudes, das einen Raum von beinahe sieben Morgen drückt, das Stadtgericht mit seinen Thürmen, in denen der Schuldgefangene schmachtet, bildet eine imposante Front gegen die Straßen hin, die sich vor seinem Portale kreuzen. Dahinter liegt die Halle des Elends in einem hohen steinernen Achteck, von dem vier gekreuzte Flügel auslaufen, um nach den vier Weltgegenden die Seufzer des Unglücklichen zu verbreiten. Es war mir unmöglich, an den geheimnißvollen Mauern vorüber zu gehen: in den Schriftzügen der zerklüfteten Felsen wollte ich lesen; hier haftete mein Auge an einer finstern, schauerlichen Kluft der menschlichen Gesellschaft.

Es war Abend, als mir der Eintritt gestattet wurde. Die letzten Sonnenstrahlen spielten um die hohen, luftigen Fenster des westlichen Flügels und ein ausreichendes Tageslicht strömte noch durch die Rotunda der mächtigen Kuppel, die sich über der Centralhalle des Gebäudes wölbt. Lautlose Stille herrschte überall; nur mein eigener Schritt dröhnte auf dem marmornen Fußboden des untern Raumes; ich war nicht gewöhnt an den kaum hörbaren Gang des Aufsehers, der unbemerkt sein wachsames Auge in jede Zelle richten kann. Ich war in eine Art von Erdgeschoß getreten, das mit erfinderischer Oekonomie ausgebaut war; auch der kleinste Winkel war benutzt. Den Corridor entlang führte der Weg mich in die räumige Centrale, und jetzt erst gewann ich einen Blick in die Großartigkeit und Eleganz des Baues. Eine achteckige Halle erhebt sich durch vier Stockwerke und schließt mit Kuppel und Rotunda. In der Mitte des marmorgetäfelten Fußbodens arbeitet eine Dampfpumpe – aber auch ihre Bewegung ist lautlos und schweigsam, wie Alles umher. Von Stock zu Stock laufen eiserne Gallerien und Treppen in die Runde; vom ersten Stock übersieht man die von der Halle auslaufenden Flügel, wenigstens drei davon – denn der vierte, in welchem[WS 1] sich nur Weiber befinden, ist mit einer Mauer gegen die Halle abgeschlossen. Auch die Flügel sind vom ersten Stock bis zur Dachwölbung licht; an den einzelnen Geschossen winden sich Treppen zu schwebenden Gallerien empor. So ist auch der gegen die Halle abgeschlossene, für die Weiber bestimmte Flügel eingerichtet. Nur im Norden, wo Bureaus und Geschäftszimmer, dann weiter oben Lazarethe und Zellen liegen, ist der Flügel geschoßweise überdacht.

Nicht lange sollte ich auf ein Lebenszeichen der Bewohner dieser Anstalt warten. Die Glocke rief – und in Zügen marschirten die Gefangenen von den Flügeln her nach den Gallerien der Halle. Nur die Weiber fehlten und die Untersuchungsgefangenen. Vor mir schaarten sich in einem Halbkreise, der gegen Norden offen blieb, sectionsweise unter Führung ihrer Aufseher, und nach Stockwerken gesondert, hier die Gefängnißsträflinge in grauen Zwillichjacken und Beinkleidern, dort aber die Züchtlinge in Braun gekleidet. Der Director, die Inspectoren der Anstalt traten vor den Eingang des nördlichen Flügels, ein Gefangener sprach das Abendgebet und dann scholl aus vielen hundert Kehlen ein Choral, der mir wie ein Grabesgesang in’s Herz dröhnte. Ich habe die Gefangenen in emsiger Thätigkeit arbeiten sehen, und es lag nichts Erschütterndes in dem feierlichen Ernst der Situation, als ich aber von ihrem Sängerchor, das leidlich eingeübt war, Lieder vortragen hörte, bebte das innerste Mark meiner Seele. Liegt es darin, daß der Gesang an das menschliche Gefühl erinnert, daß in der Weichheit des Tenors und in der Tiefe der Baßstimme immer doch ein Menschenherz zittert, auf das eine Last des Elends gewälzt ist? Zu mir sprach aus den Klängen eine unnennbare Trauer, und es waren ja der Sänger, der Elenden so viele!

Der letzte Klang verhallte, der letzte Sonnenblick verglühte. Wie schön war nicht der Abend draußen nach der Schwüle des Sommertages! Wie lustig wogte auf Straßen und Promenaden, in Gärten und auf öffentlichen Plätzen ein heiteres Völkchen durcheinander. Wie gleichgültig gingen sie an diesem kummervollen Hause vorüber! Auf das Commandowort machten seine Bewohner Kehrt; Jeder suchte schweigend seine einsame Zelle und in wenigen Minuten lag vor jeder Thür ein aufgerolltes Bündel; es war die Bekleidung und das Fußwerk des Gefangenen, der hinter Schloß und Riegel den Schlaf in seiner Hängematte suchte.

Auch in dem Weiberflügel war Abendgebet und Gesang; sie standen vor den Zellen und auf den Gallerien; auch hier fehlten die Untersuchungsgefangenen; nur Sträflinge und Züchtlinge standen in grauer und brauner Kleidung umher. Wieder dieselbe militärische Ordnung; ein Wink der Aufseherinnen, die schwarze Kleidung und blaue Bänder um die weißen Halskragen trugen, leitete jede Bewegung der Gefangenen. Um wie viel trauriger war dieser Anblick noch! Nie kann der Mann so tief sinken als das Weib! Das Gesicht des Verbrechers trägt immer noch ein bestimmtes, festes Gepräge; der Typus dieser Weiber war meist eine halt- und charakterlose Verworfenheit, körperliche und geistige Verwahrlosung, stupide Frechheit und die tief eingeschnittene Charakteristik des äußersten Elends. Sollte man es glauben, daß milde Behandlung und Ordnung in diesem Flügel unverträglich sind?! Mit Beschämung muß ich niederschreiben, man ging damit um, die Prügelstrafe für die Weiber einzuführen, und dieser Gedanke ist – horribile dictu – in einer milden, weichen Seele entstanden. Verzweifelnd möchte man ausrufen: „gibt es wirklich keine Herrschaft der Vernunft mehr über diese entarteten Geschöpfe? Muß der brutale Schrecken regieren, der körperliche Schmerz, die unauslöschliche Demüthigung, die Profanation des letzten, edlen Fünkchens im Menschen?“ Doch nein, es liegt ein innerer Widerspruch in unserm Strafsystem; es handelt sich nicht um Erziehung zur Freiheit, sondern um Ordnung unter den Zwang, und hier, wo die Ordnung das absolute Prinzip bilden muß, mögen auch Charaktere gebrochen werden! Vielleicht ist an dem Weibe, das in dem häßlichen Geifer der Leidenschaft keiner Stimme Gehör gibt, keine Schaam mehr kennt, keine Ordnung respektirt, nichts mehr zu verderben; aber die sittliche Genossenschaft, die der Staat repräsentirt, schwächt ihre eigene Würde, wenn sie an der Stelle der Vernunft das Regiment des körperlichen Schmerzes proclamirt und die Entehrung unter ihre Erziehungsmittel rechnet.

Nahezu zwei Jahre bestand damals die Anstalt; ihr eigenthümlicher Charakter ist auf die Art ihrer Entstehung zurückzuführen. In einem ehemaligen Minoritenkloster, dem es an Raum, Luft und Licht mangelte, waren die Gefangenen in Breslau untergebracht. Es war dies das alte Inquisitorium, wenn ich nicht irre, unter Verwaltung des Magistrats, unter Aufsicht des Stadtgerichts. Die Räume waren überfüllt, bei dem Mangel an ausreichender

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: welchen
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_150.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)