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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Der Nachtwandler zu Pferde.
Eine pariser Mittheilungen entlehnte Geschichte von Feodor Wehl.

Vor nicht langer Zeit befand sich auf dem Bureau des Advokaten Dumont zu Paris unter andern jungen Leuten auch ein gewisser Anatole Didot, welcher ein Mensch von guten Fähigkeiten und exemplarischem Lebenswandel war. Allen Ausschweifungen und Thorheiten seiner Collegen sorgsam aus dem Wege gehend, still und bescheiden sich selber lebend und die Zeit seiner Muße einer streng wissenschaftlichen Ausbildung widmend, hatte er nur eine, wie es schien, unter seinen Umständen ganz unschädliche und wenig verfängliche Passion, nämlich die für schöne Pferde. Wie Andere das Theater, die Musik oder die Karten liebten, so liebte er diese edlen, schönen und prächtigen Geschöpfe, deren Anblick sich zu verschaffen er weder Wege noch Mühe scheute.

Am Morgen, besonders im Sommer, stand er schon früh mit dem Tage auf, nur, um das Vergnügen haben zu können, auf dem Gange zum Bureau diejenigen Plätze und Straßen zu durchwandern, von denen er wußte, daß sie den Bereitern vornehmer Herren als Passage oder auch als Tummelplatz ihrer Reiterexercitien dienten. Mittags versäumte er oft, beim Verfolgen dieses oder jenes, auf stolzem Thiere einhertrottirenden Cavaliers sein spärliches Mittagsbrot, und Abends war er regelmäßig, selbst bei schlechtem Wetter eine oder zwei Stunden vor dem Dunkelwerden auf den Boulevards, im Bois de Boulogne oder an andern Orten zu finden, die durch eine lebhafte Passage von Carossen und Reitern ausgezeichnet waren. Am Sonntag Abend befand er sich fast regelmäßig im Franconi’schen Circus, entzückt und begeistert nicht sowohl von den Künsten der verschiedenen Herren und Damen, die sich dort produzirten, als vielmehr von den eleganten und reizenden Thieren, von denen sie getragen wurden.

So seiner Liebhaberei nachlebend, geschah es, daß er einmal in der Rue de la Paix einem Herrn begegnete, der einen köstlichen Grauschimmel ritt. Diesen sehen und davon hingerissen sein, war die Sache eines Augenblicks. Anatole Didot schwor, das Pferd mit den Augen verschlingend, bei sich selbst, daß er noch nie eines von einer ähnlichen Grazie und Schönheit erblickt, Kopf, Füße, Rücken, Hals, das Alles schien ihm von einer Ebenmäßigkeit, Zartheit und doch auch Stärke zugleich, daß er sich von seiner Bewunderung kaum erholen und auch noch Acht auf den elastischen Gang, die edle Haltung und das kokette Curbettiren dieses Göttergeschöpfes haben konnte. Immer darauf hinstarrend und neben ihm hereilend, über seinen Anblick Alles um sich her und sich selbst vergessend, kam er erst wieder zu sich, als er es vor einem Gesandten-Hotel angehalten und einem Reitknecht übergeben sah, der ihm Maul und Nacken streichelnd, es durch ein großes Portal in einen geräumigen Hof hineinführte.

Vor diesem Hofportal, obschon es ziemlich weit von seiner Wohnung ablag, war er des Tages doch mindestens von da ab ein oder zwei Mal zu sehen, glücklich darüber, wenn es sich traf, daß er während seines Davorverweilens einen, wenn vielleicht auch nur flüchtigen Blick auf jenen Grauschimmel thun konnte. War dieser Grauschimmel doch sein Gedanke bei Tag und Nacht, und zwar so sehr, und ihn so ganz beherrschend, daß er, was er sich gern hingehen ließ, nicht nur im Schlafen auf das Lebhafteste von ihm träumte, sondern auch, was ihm seither noch nicht geschehen und ihn in seiner Gewissenhaftigkeit sehr bekümmerte, auch im Arbeiten sich durch ihn behindert und gestört sah, etwa in der Art wie es einem Verliebten gehen mag, dem sich mitten in die Dringlichkeit seines Geschäfts das Bild und die Erinnerung an die Angebetete einschleicht. Zwischen alle Relationen, alle Häuserkäufe, Geschäftsübertragungen und Erbschaftsabfassungen drängte sich die Vorstellung von dem Grauschimmel so mächtig ein, daß er unwillkürlich, und eh’ er es sich versah, die Feder ruhen und im Geist den Blick an dem vorübertänzelnden Thiere sich weiden ließ. Entstand dann zufällig ein Geräusch, fragte ihn einer seiner Collegen oder sein Herr nach diesem oder jenem, so fuhr er, über sich und seine Träumerei erröthend, so schreckhaft auf, daß man Wunder meinte, was ihm geschehen sei.

Tausend Mal nahm er sich, bemerkend, wie er Selbstbeherrschung und die nöthige Sammlung zur Arbeit einbüßte, selber vor, des Pferdes gar nicht mehr zu gedenken, ihm zu Gefallen keinen Schritt mehr zu thun und ganz nur den Pflichten seines Berufes zu leben. Allein, so fest und energisch dieser Entschluß auch gefaßt war, kaum hatte er das Bureau im Rücken und die offene Straße erreicht, so befand er sich auch schon auf dem Wege zu dem Gesandtschaftshotel, da mit Spannung und Herzklopfen des Augenblicks zu warten, in dem es ihm etwa vergönnt sein möchte, den Gegenstand seiner Abgötterei zu sehen.

Einmal, als es gesattelt und gezäumt von dem Reitknecht vor die Thüre des Hotels geführt ward, um da des Reiters zu harren, der es zu besteigen verlangt hatte, konnte er seiner Begierde es ganz nahe zu besehen und mit den Händen zu betasten, nicht länger widerstehen. Sich mit dem Groom in ein Gespräch einlassend, nach Allem, Namem und Herkommen seines geliebten Grauschimmels fragend, klatschte er ihm sanft und leise auf Schenkel, Bug und Stirn, sich dabei wie von einem Schauer stiller Glückseligkeit überrieselt fühlend. Ein Jüngling, vom Hauch oder dem Lockenhaar seiner Auserkornen berührt, kann keine glücklicheren und berauschenderen Empfindungen haben, als Anatole Didot sie im Streicheln der Alabasterhaut seines Liebings hatte. Sein Herz schlug fieberhaft, sein Auge glühte. Er mußte alle Gewalt über sich zusammen nehmen, um der Lust, das Thier zu umarmen und zu besteigen, Widerstand zu leisten.

Um diese Zeit geschah es, daß Anatole Didot, genöthigt seine bisherige Wohnung aufzugeben, sich nach einer neuen umsehen mußte. Getrieben von seiner Lust, den Grauschimmel so viel und so oft als möglich vor Augen zu haben, suchte er nun besonders in dem Quartier, in welchem das mehr erwähnte Gesandtschafts-Hotel belegen war, und zu seinem Glück fand er hier denn auch wirklich ein paar freundliche Hinterzimmer, deren Aussicht auf den Hof desselben hinausging.

Nachdem er dieselben bezogen, brachte er nun fast alle seine Freistunden an seinen Fenstern zu, von wo aus er den Stall des Gesandten beobachten und nicht selten den Grauschimmel gewahren konnte.

Dieser Grauschimmel, ein englisches Vollblutspferd, seiner Schnellfüßigkeit wegen „der Blitz“ genannt, hatte zu jener Zeit ein fast europäisches Renommee, denn in London, Paris, Berlin und anderen Orten zu den damals mit Leidenschaft betriebenen Rennen gestellt, war er überall der unbestrittenste Sieger geblieben. Sein Besitzer, der ihn mit schwerem Golde aufgewogen, aber durch das Gewinnen mehrfach angestellter Wetten den enormen Kaufpreis schon zehnfach wieder eingenommen, hatte in der Zeit, in welcher unsere Geschichte spielt, den Blitz natürlich auch wieder zu dem Rennen in Paris selbst auf die Liste setzen lassen.

Leider wurde zu seinem Verdrusse, kurz vor dem für das Rennen festgesetzten Termine, der Engländer krank, welcher über den Kanal verschrieben worden war, das Thier zu reiten. Wenn aber schon dies dem Gesandten ärgerlich war, so nahm sein Unmuth noch um ein Bedeutendes zu, als er eines Morgens nach dem Stalle kommend, Blitz in einem befremdend abgeschwitzten und ermatteten Zustande fand, in einem Zustande, den er sich nicht zu erklären vermochte, und in welchem, wie der französische Stallknecht angab, das Thier schon seit einiger Zeit allmorgendlich gefunden worden war, ohne daß man der Ursache desselben auf den Grund zu kommen sich in den Stand gesetzt gesehen habe.

Der Gesandte, über dies räthselhafte Ereigniß außer sich gerathend und seiner Stallbedienung die heftigsten Vorwürfe über Nachlässigkeit, Achtlosigkeit und Versäumniß machend, befahl nun, die ganze nächste Nacht bei dem Thiere zu wachen, um zu sehen, was mit demselben geschehe.

Die Wahrnehmung irgend einer, dem Thier schädlichen Unbequemlichkeit erwartend, war er im höchsten Grade erstaunt, als ihm in der Frühe des nächsten Tages die Meldung ward, es sei ein Mann im Hemde des Nachts leise und still in den Stall gekommen, habe das Thier gesattelt und gezäumt, sich dann darauf geschwungen, und habe es alsdann beinahe eine Stunde lang in dem hinteren, ungepflasterten Theile des Hofes abgeritten, dann es wieder in den Stall gebracht, abgesattelt und abgezäunt und in die Ständer gebracht.

„Du hast wohl geträumt,“ rief der Gesandte, sich die Augen reibend, dem die Meldung machenden Stallknecht zu. „Das ist ja ein Mährchen wie aus Tausend und einer Nacht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_138.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2023)