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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Londoner Lebens- und Verkehrs-Bilder.
Der alte und der neue Fleisch-Markt.

Die Bewohner der englischen Metropolis haben feierlich von einem ihrer ältesten und familiärsten Freunde auf ewig Abschied genommen. Sein Ruhm, seine Schönheit, sein Unentbehrlichkeit waren anerkannt und bekannt in der ganzen Welt seit einem vollen halben Tausend von Jahren. Smithfield-Market ist nicht mehr. Er starb an der Geburt eines neuen Vieh- und Fleischmarktes für drei Millionen der größten Carnivoren[WS 1] unter den Menschen, für deren Fleischvertilgungsvirtuosität uns in statistischen Zahlen wahrhaft grandiose Beweise vorliegen. So groß und schön und modern vollkommen auch der neue Opferaltar ist, der alte Markt ist und bleibt doch ein historisch-klassischer Boden für die Kulturgeschichte Englands. Der häßlichste aller Plätze Londons wurde schon im 11. Jahrhundert dem Kloster St. Bartholome als ein Meß-Platz monopolisirt. Eduard III. privilegirte die Corporation der City für einen Viehmarkt auf demselben Platze mit der Bestimmung, daß sieben Meilen ringsum kein anderer Viehmarkt gehalten werden dürfe. So wuchsen Messe und Markt als zwei Monopole nebeneinander auf und blühten und freuten sich ihrer Kraft gegen alle Reformen und Neuerungen volle fünf Jahrhunderte. Unlängst starb die Bartholome-Messe und der Markt, Philemon ohne Baucis, folgte ihr letzte Weihnachten nach.

Der neue Vieh- und Fleisch-Markt in London.

Da Smithfield-Market keine Geschichte hat, außer daß er sich gegen alle Vernunft und Menschenvermehrung stets seinen siebenmeiligen Umkreis als Monopol zu erhalten wußte, können wir leicht über diesen Stoff wegschreiten.

Neuerdings mußten im Durchschnitt jährlich 400,000 Rinder, 1,400,000 Schafe und eine verhältnißmäßige Zahl von Kälbern, Schweinen und Lämmern in dieses Monopol getrieben werden, um sich das Recht zu erwerben, ihre Eigenthümer zu wechseln und unter deren Händen für England zu sterben. Das war eine Kunst, die an Hexerei grenzte, besonders an dem „großen Tage,“ d. h. dem letzten Montage vor Weihnachten, wo auf diesem Platze, der kaum halb so groß ist, als der Krystall-Palast von Sydenham, alle die ungeheuern Fleischmassen, welche London braucht, um sich Weihnachten „comfortable“ zu machen, binnen wenig Stunden lebendig hineingetrieben, verkauft und durch unendliche Labyrinthe von Straßen, Wagen und Menschen wieder hinausgetrieben werden mußten. Voriges Jahr handelte es sich an diesem Platze, an diesem Tage, in wenigen Vormittagsstunden, um beinahe 6000 Stück Rinder, 35,000 Schafe und verhältnißmäßig viel Kälber, Lämmer und Schweine. Die Scenen, welche die Nächte jedes londoner Sonntags ausfüllen, damit der graue Montagmorgen beinahe drei Millionen fleischenthusiastische Menschen auf acht Tage mit Fleisch versehe, gehörten bisher zu den seltsamsten und entsetzlichsten, die man in unserm unromantischen Jahrhunderte irgendwo auftreiben könnte.

Dampfschiffe von Rotterdam, Hamburg und dänischen Häfen, von Berwick, Leith, Dundee, Aberdeen und Inverneß in Schottland, Eisenbahnen von den nördlichen und mittleren Districten, besondere Treiber zu Fuße aus der Nachbarschaft bilden jeden Sonntag Abend eine wahre Belagerungsarmee um London, um nach Mitternacht von allen Seiten zugleich einzudringen und sich in das furchtbarste Labyrinth von Schmutz, Nebel, Fackeln, Flüchen, Hundegebell, von quiekenden Schweinen, brüllenden Ochsen, blökenden Kälbern und Schafen, von Peitschengeknall, Knüttelregen, und riesigen, schmutzigen, wilden und barbarischen Menschen so fest in einander zu wirren und drängen, daß nur die feisten, athletischsten Fleischer, die von allen Seiten in ihren Einspännern durch die Nacht herbeieilen, sich mit ihren eingesalbten Kleidern und urweltlich starken Knochen hineindrängen können, ohne zermalmt zu werden.

Philosophie, Mathematik und Chemie haben manche uralte Mysterien der Natur und des Lebens gelöst, aber kein Hegel, Newton, kein Liebig sind im Stande, zu erklären, wie Vieh und Menschen, Fackeln und Schmutz, Hunde und Peitschen und Knüttel es anfangen, um bis Mittag ein Uhr alle mit heiler Haut davon zu kommen und den Smithfield-Markt wieder auf acht Tage in eine schmutzige Einöde zu verwandeln, auf welche krumme, lahme, in Gedanken und Schmutz versunkene Häuser trostlos auf ein Labyrinth von Stacketen und Tabak rauchende, einsam feilhaltende Irländerinnen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Cariavoren
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_089.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2023)