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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Helene versah die kleinen Obliegenheiten, die man ihr als Gesellschafterin der Commerzienräthin zugetheilt, mit erhöhter Pünktlichkeit, es schien selbst, als ob sie mit Schmerz das eingetretene Mißverhältniß erkannt hätte, und nun ihre Wohlthäterin durch vermehrte Sorgfalt dafür entschädigen wolle. Der argwöhnische Robert war auf seine Mutter eifersüchtig, er glaubte ihrer Verschlagenheit zutrauen zu dürfen, daß sie in Helenen selbst sich ein Mittel erschuf, seine Verbindung mit ihr zu verhindern. Der glühende Liebhaber war in den nächsten vierzehn Tagen nur mit seiner Herzensangelegenheit beschäftigt, er gedachte kaum des gefangenen Franz noch, der ihm in jeder Beziehung ungefährlich erschien. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Helene gerichtet, und wenn er mit ihr sich festgestellt, so glaubte er alle Hindernisse beseitigt zu haben.

Madame Simoni hatte ihren Besuch bei dem Präsidenten wiederholt. Dieser Umstand bewog ihn, die Verständigung mit Helenen zu beschleunigen. Eines Morgens traf er sie allein in dem Zimmer seiner Mutter. Verwirrt legte sie das Zeitungsblatt aus der Hand, in dem sie gelesen hatte. Robert grüßte mit bewegter Stimme und küßte ihr die Hand. Sie erröthete bei dieser Grußbezeugung und ihre Blicke senkten sich zu Boden.

„Wo ist meine Mutter?“ fragte er.

„Sie wird erst um zehn Uhr ihr Schlafzimmer verlassen. Wenn Sie die Frau Commerzienräthin sprechen wollen –"

„Nein, Helene, ich preise vielmehr den Zufall, der mir gestattet, Sie ohne Zeugen zu sehen.“

„Mich, mein Herr?“ fragte sie in einer Verwirrung, die ihr ungemein reizend stand, und die Robert in seinem Interesse für ein gutes Zeichen hielt.

Sie stand vor ihm in einer Verfassung, die ihre Schönheit im vollen Lichte zeigte. Das große blaue Auge verklärte ein ruhiger Glanz, die in ihren Umrissen so edeln und reinen Gesichtszüge waren der Wiederschein eines weiblichen Gemüths, das alle Schätze von Tugend und Liebe barg. Wie in ihrem ganzen Wesen, so schien Helene auch in ihrer einfachen Toilette die Künste der Koketterie zu verschmähen, und wenn jener Glanz, der der Seele entströmt, selbst häßlichen Frauen Reize verleiht, wie wunderbar mußte er Helenen schmücken, die von der Natur mit Grazie begabt, schön gewachsen und im Besitze eines himmlischen Augenpaares war.

„Helene, Sie dürfen mir eine Unterredung nicht verweigern, von der meine Ruhe, mein ganzes Lebensglück abhängt. O lassen Sie sich durch keine Rücksicht abhalten, offen, ganz offen zu mir zu reden!“ rief er flehentlich und indem ihm die Thränen in die Augen traten.

„Was wollen Sie wissen, Herr Simoni?" flüsterte sie kaum hörbar.

„Ich fordere nicht die Enthüllung des Geheimnisses, von dem Sie neulich sprachen, daß es auf Ihrer Seele haftet; aber geben Sie mir Gewißheit, ob ich, zu welcher Zeit es auch sei, von Ihrem Herzen eine günstige Entscheidung erwarten darf.“

„Ihre Mutter, mein Herr!“ stammelte Helene, erschreckt über den Ungestüm des jungen Mannes,

„Meine Mutter wird es Ihnen danken, wenn Sie ihren Sohn zu dem glücklichsten der Menschen machen, und er wird es sein, Helene, wenn Sie sich entschließen können, seine Hand anzunehmen. Entreißen Sie mich den furchtbaren Zweifeln, die mein Herz zernagen, sagen Sie mir nur mit einem einzigen Worte, ob ich hoffen darf, daß jenes Geheimniß Ihnen keine Fesseln anlegt, daß es Ihnen noch frei steht, ohne Zwang den künftigen Lebensgefährten zu wählen.“

„Ich habe Sie gebeten, mein Herr, mir Zeit zu gönnen!“ stammelte sie. „Und auch Sie selbst bedürfen der Zeit, um die kennen zu lernen, die Sie in Ihre Familie aufnehmen wollen. Vergessen Sie nicht, daß es sich um Ihre ganze Zukunft handelt.“

„O mein Gott, diese ewigen Bedenken!“ rief Robert hingerissen. „Ich fürchte nicht, daß meine Liebe sich ändert, denn Sie, Helene, bleiben so dieselbe, auch wenn Sie nie den Schleier von Ihrer Vergangenheit nehmen.“

„Sie setzen ein großes Vertrauen in mich, das ich vielleicht nicht verdiene.“

„Mein Mißtrauen erstreckt sich nur auf die Freiheit Ihres Herzens.“

„Ich würde es Ihnen längst gesagt haben, Herr Simomi, wenn ich in dieser Beziehung gefesselt wäre. Die Pflicht der Dankbarkeit erfordert ein unumwundenes Geständniß.“

„Helene, Sie können noch eine Wahl treffen?“

„Ich kann es!“ flüsterte sie, verwirrt die Augen zu Boden senkend.

Robert stürzte zu ihren Füßen nieder, hastig ergriff er ihre beiden kleinen Hände und bedeckte sie mit glühenden Küssen.

„Dann, Helene,“ rief er aus, „werde ich nicht ermüden, mich um Ihre Gegenliebe zu bewerben. Aber verkennen auch Sie Ihre Stellung nicht in unserm Hause –“

„Stehen Sie auf, mein Herr!" rief die junge Dame in einer martervollen Angst, und indem sie starren Blicks aus den Knieenden herabsah.

Sie zog ihn empor und entwand sich sanft seinen Händen. In diesem Augenblicke ließ sich die Glocke der Commerzienräthin vernehmen. Helene verneigte sich und verschwand durch eine Thür.

„Dieser Engel wird mein Weib,“ flüsterte der entzückte Robert, „und wenn sich die Welt mir entgegenstellte! Sie kann nicht anders handeln, denn sie ist ein zartfühlendes, taktvolles Mädchen. Ach, ich möchte alle Menschen umarmen, möchte sie alle so glücklich machen, wie ich jetzt durch das Geständniß Helenen’s geworden bin. Sie liebt mich, sie liebt mich! Es unterliegt keinem Zweifel!“

Eine Stunde später ließ sich der Advokat Petri anmelden. Robert selbst führte den Rechtsanwalt in das Zimmer seiner Mutter, die ihn mit großer Neugierde empfing.

„Madame,“ begann der Advokat, „man hat mich zum Vertheidiger eines gewissen Franz Osbeck berufen, der wegen politischen Verbrechens in Ihrem Hause verhaftet wurde.“

„Leider!“ rief entrüstet die Wittwe. „Uebrigens, mein Herr, ersuche ich Sie, mich in diese traurige Angelegenheit nicht weiter zu verwickeln, denn ich kenne Franz Osbeck nicht, will ihn nicht kennen, obgleich er unglücklicherweise mein Neffe ist. Es bedarf wohl weiter keines Nachweises, daß die Commerzienräthin Simoni mit einem vagirenden Demokraten nicht in Verbindung steht. Ich habe mich schon von ihm losgesagt, noch ehe er sich gegen den Staat vergangen.“

„Auch kann man nicht sagen,“ fügte Robert hinzu, „daß wir ihm seine Flucht erleichtert haben, er forderte eine Geldunterstützung – wir haben sie ihm verweigert, um uns durchaus in keine Beziehung zu ihm zu setzen.“

„Verzeihung,“ sagte ruhig der Advokat, „es ist nicht meine Absicht, irgend einen Mitgenossen des Angeklagten aufsuchen zu wollen, um vielleicht dadurch seine Schuld zu verringern, die, leider muß ich es sagen, eklatant am Tage liegt; aber die Pflicht gebietet mir, zu forschen, wieweit ich seinen Angaben Glauben schenken kann.“

„Sollte Herr Osbeck seinen eigenen Vertheidiger belügen?“ warf Robert höhnend ein.

„Wenn auch nicht mit Vorsatz, mein Herr, aber das Unglück scheint seinen Geist so geschwächt zu haben, daß ich nur mit großer Vorsicht seine Aussagen aufnehmen darf. So behauptet der Gefangene beharrlich, Ansprüche auf die Hälfte Ihres Vermögens zu haben –“

Der Advokat unterbrach sich, und sah mit einem feinen Lächeln die Wittwe an. Madame Simoni, die darauf vorbereitet war, blieb ruhig,

„Und Sie, mein Herr, wollen diese Ansprüche geltend machen?“

„Nein, Madame, dazu bin ich nicht berufen. Ich müßte ein schlechter Advokat sein, wenn ich einen Criminalprozeß mit einer Erbschaftsangelegenheit vermischen wollte.“

„Was ist in diesem Falle der Zweck Ihres Besuchs?“ fragte Robert.

„Kein anderer, als mich über den Geisteszustand des Gefangenen zu informiren. Es kommt Alles darauf an, von welchem Gesichtspunkte ich bei meiner Vertheidigung ausgehe, die unstreitig eine der schwierigsten Aufgaben für einen Rechtsgelehrten ist. Thatsachen, die nicht nur ihre Wirkung ausgeübt, sondern auch durch Zeugen bewiesen sind, kann selbst der scharfsinnigste Jurist nicht hinwegdisputiren, und es würde ein arger Fehlgriff sein, wollte ich in diesem Sinne meinen Clienten zu vertheidigen suchen. Franz Osbeck ist nach meiner Ansicht für das Leben verloren, man wird ihn sicher zum Tode verurtheilen, wenn es mir nicht gelingt, ihm eine Stelle in der Irrenanstalt zu verschaffen. Meine Aufgabe ist, ihn so weit als möglich von der drohenden Strafe zu befreien,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_030.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)