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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

„Robert,“ sagte Franz Osbeck in einem schmerzlichen Ausdrucke, „hat die Zeit immer noch nicht Deine Ansicht von mir geändert? Ich will sie nicht gewaltsam zu meinen Gunsten ändern –“

„Diese Mühe würde auch vergebens sein!“ rief Robert. „Meine Ansicht von Dir steht so fest, daß ich Dich bitten muß, mir Dein Hotel zu nennen und dort die Unterstützung zu erwarten, die ich Dir, ohne daß Du darum bittest, senden werde.“

Franz zuckte heftig zusammen und seine Lippen zitterten, als er sich, mit großer Anstrengung seine Fassung bewahrend zu Madame Simoni wandte:

„Ich bin nur in der Absicht gekommen, die Schwester meines guten Vaters zu sprechen; weist auch sie mich ab, so habe ich in dem Hause meiner einzigen Verwandten auf dieser Welt nichts mehr zu suchen.“

Die Wittwe hatte erschreckt die jähe Gesichtsveränderung des Neffen beobachtet.

„Besuchen Sie mich morgen Mittag wieder!“ stammelte sie.

„Zehn Minuten genügen, liebe Tante!“ bat Franz in sichtlicher Angst. „Ich muß reisen –“

„Hier ist Geld!“ rief Robert, indem er seine kostbare Börse hervorzog und sie dem jungen Osbeck vor die Füße warf „Reisen Sie, mein Herr, reisen Sie in Gottes Namen!“

„Das ist zu viel!“ rief Franz mit erstickter Stimme und indem er am ganzen Körper zitternd, einen Schritt zurücktrat. „Robert, Du bist ein Elender!“ fügte er mit glühenden Blicken hinzu, die seinem bleichen Gesichte ein erschreckliches Ansehen gaben. „Mir, mir wirfst Du wie einem Bettler Deine Börse zu? Ich habe vergessen wollen, doch Du regst meine Erinnerung gewaltsam an –“

„Und wessen erinnert sich denn der Herr?“ fragte Robert, den furchtbar aufgeregten Franz mit spöttischen Blicken messend.

„Daß mir die Hälfte des Vermögens gebührt, mit dem Herr Simoni vor der Welt prahlt! Ja, mein Herr, ich weiß nur zu genau, daß mein guter Vater mehr als der Buchhalter seines Schwagers war. Diese Börse enthält erschlichenes Geld!“ fügte er hinzu, indem er sie mit dem Fuße zurückstieß. „Behalten Sie es, es mag auf Ihrer Seele brennen wie Höllenfeuer! Ihr Vater ließ den alten Buchhalter fürstlich begraben, die Journale strotzten von pomphaften Todesanzeigen, und seiner Treue wurde öffentlich erwähnt; aber sein Geld blieb heimlich in der Kasse. Man erklärte mich für verrückt, als ich meine Ansprüche erhob –“

„Und ich werde diese Erklärung bestätigen!“ sagte Robert in kalter Ruhe. „Wer es wagt, einen Todten in der Erde zu schmähen, ist ein Wahnsinniger. Mutter, Sie sind Herrin vom Hause – ich erwarte Ihre Befehle, wenn Sie nicht wollen, daß ich aus eigenem Antriebe handele.“

Das volle Gesicht der Wittwe war ein wenig bleich geworden; aber mit einem bedeutenden Lächeln sagte sie:

„Der gute Neffe hat die fixe Idee, daß sein Vater stillschweigender Compagnon meines seligen Mannes war, er will durchaus nicht glauben, daß er nur den Posten eines ersten Buchhalters bekleidet und dafür einen jährlichen Gehalt von tausend Thalern bezogen hat – ein schönes Geld für einen einzelnen Mann. Doch streiten wir nicht darüber – die Rechtlichkeit meines Gatten war zu bekannt, als daß ein leichtsinniger Mensch sie mit Erfolg antasten könnte. Damit es nicht scheint, als wolle ich durch Geschenke ein Vergehen ausgleichen, ziehe ich meine Hand von Herrn Franz zurück – wo ist Helene? Ich will nach meinem Zimmer gehen.“

Sie setzte eine Glocke in Bewegung, die neben ihr auf einem Tische stand. Auf dieses Zeichen öffnete sich die Thür des Kabinets, und Helene trat ein.

„Madame! Madame!“ rief Franz in einer fürchterlichen Aufregung. Er wollte fortfahren, aber wie plötztlich gelähmt an Geist und Körper starrte er die eintretende Helene an. Die Aufregung der Mutter und des Sohnes war so groß, daß sie den Zustand des jungen Mädchens, der dem ihrigen glich, nicht bemerkten, eben so wenig den bedeutungsvollen Blick, den sie dem armen Franz zusandte. Zugleich deutete sie mit der zitternden Hand auf die weiße Rose an ihrer Brust. Dieses Zeichen wirkte wie ein Zauber auf den regungslosen Franz; seine Züge belebten sich, in dem kalt glänzenden Auge zeigten sich Thränen, und, beide Hände auf die Brust gepreßt, suchte er den jähen Ausbruch eines freudigen Gefühls zu unterdrücken. Mit übermenschlicher Anstrengung rang Franz nach Ruhe. Die Erscheinung des reizenden Wesens aber hatte zu mächtig auf ihn gewirkt, als daß er die Folgen in sich zu verschließen vermochte. Er bedeckte mit beiden Händen sein Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Die Thränen eines Mannes erschüttern das kälteste Herz; Madame Simoni sowohl als Robert konnten dem Weinenden ihr Mitleid nicht versagen. Beide hielten diesen raschen Wechsel seiner Stimmung für eine Wirkung der ausgesprochenen Absicht seiner Tante.

„Sein Verstand hat wirklich gelitten!“ flüsterte Robert so laut der Mutter zu, daß Helene, die neben ihrem Stuhle stand, es verstehen konnte.

Helene sandte einen unbeschreiblichen Blick zum Himmel. Dann wartete sie ruhig auf die Befehle der Wittwe. Außer den ungestümen Wallungen des Busens verrieth nichts die gewaltigen Empfindungen, die in ihr tobten. Ihr Gesicht war bleich, aber ruhig.

Madame Simoni erhob sich.

„Ihren Arm, mein Kind!“ sagte sie artig.

Die Angeredete unterstützte den schwerfälligen Gang der Dame.

„Du wirst, Robert, diesen Herrn zu trösten wissen! “ wandte sie sich im Gehen zu ihrem Sohne.

Aber Robert hörte es kaum; Helene, die ihm in dieser Verfassung noch tausend Mal schöner erschien, hatte sein ganzes Wesen ergriffen. Seine glühenden Blicke schienen das reizende Geschöpf verschlingen zu wollen.

Auch Franz erhob sich und starrte den beiden Damen nach, die langsam der Thür zu gingen. Niemand bemerkte, außer Franz, daß Helene zum zweiten Male auf die weiße Rose deutete, die ihren Busen schmückte. Die Thür schloß sich und Franz und Robert waren allein. Eine peinliche Pause trat nun ein. Der junge Kaufmann hatte nicht den Muth, seinen armen Vetter zu verlassen, der mit gefalteten Händen, als ob er still betete, verklärten Angesichts nach der Thür sah, durch welche die beiden Frauen verschwunden waren. Als ob Franz der Gewalt seiner Empfindungen nicht länger entgegenkämpfen konnte, wandte er sich rasch zu seinem Vetter, und ergriff dessen Hand.

„Robert,“ rief er, „jetzt verzeihe ich Dir, Alles, Alles! Sieh, ich bin ein armer Mann, und ich verhehle nicht, daß ich gekommen bin, Deine Mutter um eine Unterstützung zu bitten. Du hast mich wie einen Bettler behandelt, hast mich einen Wahnwitzigen gescholten – ja, ich bin ein Wahnwitziger, ein Bettler, behandle mich als solchen, aber gieb mir eine Summe, mit der ich reisen und mir in einem entfernten Winkel der Erde eine Existenz gründen kann. Dann sollst Du mich nie, nie wiedersehen. Der arme Franz wird für Dich todt sein, wie mein Vater für Dich todt ist! Du schweigst, Robert, lächelst mich kalt an – o, vergiß meine Beleidigungen, denke, daß sie Dir ein unzurechnungsfähiger Mensch zugefügt hat! Robert, ich will vor Dir knien, ich will kniend bitten: gieb mir von Deinem Ueberflusse, daß ich nicht in den Abgrund des Verderbens stürze, der mich angähnt. Noch kann ich glücklich werden, und Du, Du allein kannst mich glücklich machen!“

Robert zog seine Hand zurück, die der aufgeregte Franz Osdeck noch einmal ergreifen wollte.

„Was ist das?“ fragte er kalt. „Woher kommt diese plötzliche Umwandlung?“

„Frage mich nicht! Frage mich nicht!“ bat Franz.

Mit dem Scharfsinne, den die Eifersucht giebt, hatte Robert nach dem Ursprunge der jähen Umwandlung Franzen’s geforscht. Die Antwort Helenen’s hatte seinen Verdacht geweckt, den Verdacht gegen Alle, die sich in ihrer Nähe befanden. Der spekulirende Kaufmann ging in den glühenden Liebhaber über. Mit einem Blicke übersah er die Lage der Dinge. Helenen’s geheimnißvolles, schmerzliches Wesen, und Franz in dieser Verfassung, seit sie in dem Zimmer erschienen war. Seine Angst wollte Gewißheit haben.

„Reisest Du allein?“ fragte er mit einem stechenden Blicke.

Franz ward plötzlich ruhiger.

„Allein?“ wiederholte er mit unsicherer Stimme. „Wer sollte mich begleiten? Ich bin allein, ganz allein!“ fügte er mit unverkennbarer Aengstlichkeit hinzu. „Rüste mich aus, und wenn der Tag graut, reise ich ab.“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_004.jpg&oldid=- (Version vom 30.6.2019)