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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Stadt und als der Brennpunkt für die Normen und Formen aller Arten von Schulunterricht für ganz Canada von der größten Bedeutung. Obgleich ein Geistlicher, Dr. Ryerson, an ihrer Spitze steht, giebt sie doch das Muster für „Secular“-Unterricht durch ganz Canada, d. h. mit Ausschluß der Religion, welche als Sache des Einzelnen auch dem Einzelnen zur freien Wahl bleibt. Sie ist specielles Haupt von etwa 3000 Schulen im westlichen Canada allein, deren Kosten, etwa 700,000 Thaler, zu vier Fünfteln durch freie Beisteuer der einzelnen Gemeinden aufgebracht werden. Mit den Schulen stehen reich ausgestattete Bibliotheken zur unentgeltlichen Benutzung für Jedermann in Verbindung. Als Sitz der Regierung, der Haupt-Gerichte, der Universität und Normalschule vereinigt Toronto eine große Menge reiche, gebildete und gelehrte Familien in sich und giebt dem heitern, blühenden Aussehen der Stadt und Bevölkerung etwas ungemein Vornehmes und Geschmackvolles. Ich erinnere mich nicht, irgend einen rohen oder schmutzigen Menschen gesehen zu haben. Selbst gewöhnliche Handlanger bei Bauten verwandelten sich mit dem Feierabend sofort in gutgekleidete Herren mit weißer Wäsche und gewichsten Stiefeln. Nach Boston und Philadelphia ist Toronto der Hauptsitz für Gelehrte, Gebildete und Männer der Muße und des Geschmacks. Ich erwähne nur noch, daß Toronto ein guter Platz für Auswanderer ist, insofern sie hier nach allen Seiten die besten Gelegenheiten haben, sich überall einzufinden, wo sie am Willkommensten sind. Bauverständige, Zimmerleute, Tischler, Maurer u. s. w. finden vielleicht noch Jahre lang mit Gold bezahlte Arbeit in Toronto selbst.

Von Hamilton, Dundas, Guelph und andern blühenden Städten um Toronto herum, von dem malerischen Wechsel der Kultur in Zickzackzäunen mit Wald, Wildniß und Berg, den vielen einzelnen und traubenartig zusammenhängenden Farms und einigen persönlichen Erlebnissen im westlichen Canada will ich der Kürze wegen gar nichts sagen; nur halte ich es für erwähnenswerth, daß ich am großen Flusse (Grand River) hinunter, etwa 9 Meilen von Toronto auf eine lange Doppelreihe deutscher Colonien in dem blühendsten Zustande kam. Unsere Landsleute hatten alle vortreffliche Häuser und Gärten, Wiesen, Felder, gut genährtes Vieh und innerhalb derselben nicht selten die hübschesten städtischen Luxussachen. In ihnen sah’s heiter und behäbig, um sie herum malerisch im entzückendsten Grade aus. Wälder, Berge, Villa’s, Felder, Wiesen, Wasser, lachende Blumen, dahinter düsterer Urwald, gute Arbeit und guter Absatz in den benachbarten Städten Galt, Dumfries[WS 1] u. s. w., und das schwellendste Leben der Kultur, Industrie und des Handels das ganze lachende Thal des großen Flusses bis an den Erie-See hinunter. Von den neuen Städten mit bekannten Namen, als da sind: Paris, „London an der Themse,“ Godwich u. s. w. habe ich selbst nichts gesehen, aber viel davon gehört, namentlich von dem kanadischen „London an der Themse,“ wo sich die Bevölkerung seit 1827 um 550 Procent vermehrt hat, nachdem diese Gegend von jeher als die unwirthlichste, welche die ersten Ansiedler kaum vor dem Hungertod schützte, verschrieen war. Jetzt gehört, wie das Sprichwort sagt, ordentliches Genie dazu, wenn man will, daß es Einem nicht wohlgehe. London war 1825 noch eine Wüste, jetzt zählt es 24,000 wohlhabende Einwohner. Und nun noch ein Wort von dem Helden, der diese ganze Gegend gleichsam aus Nichts schuf oder sie vielmehr Schritt für Schritt der barbarischsten Natur durch einen 30jährigen Krieg abgewann, einem Eroberer, gegen welchen die Alexander’s und Cäsar’s u. s. w. erst recht als Barbaren erscheinen.

Thomas Talbot, ein adeliger Irländer, englischer Lieutenant, wanderte 1791 nach Canada aus, wo er im Dienste des Gouverneurs das Terrain jenseits des Huronen-Sees untersuchen und für künftige Städte und Dörfer abmessen half. Die Wildniß gefiel ihm als Urstoff für künftige Civilisation. Um nicht allein zu civilisiren, kehrte er 1800 nach England zurück, um seine Braut abzuholen, welche sich aber inzwischen schon mit einem stillen Manne verheirathet hatte. Talbot ward von dieser Zeit an der gründlichste und konsequenteste Feind des schwachen Geschlechts und blieb es bis in sein spätestes Greisenalter. Mit einem von der Regierung bewilligten Stück Wildniß, das er auf etwa 100,000 Morgen abgeschätzt hatte, sich aber hernach siebenfach größer erwies, vermählte er sich und erhob dieselbe zur Mutter der dichtesten Civilisation, die sich noch mitten im Urwald wie ein Paradies entfaltet. Im Jahre 1803 drang er mit einigen entschlossenen Männern, Aexten, Beilen, Sägen u. s. w. im Norden des Erie-Sees in die von Huronen und Chippeways durchstreifte Wildniß und faßte Fuß mindestens 40 geographische Meilen von der nächsten Niederlassung eines Weißen. Hier blieb er bis zum Frühjahre 1814 – also über 12 Jahre lang – gänzlich verborgen, sodaß Niemand mehr an seine Existenz glaubte, und auch damals hörte man nur unverbürgte Gerüchte. Erst 1819, als die Fluth der Auswanderung begann, entdeckte man ihn und seine Thaten wirklich, und erst jetzt hörte Talbot zum ersten Male, daß es in Europa einen Napoleon und eine Schlacht bei Waterloo gegeben habe. Zwei Drittel seiner Begleiter waren verhungert und erfroren. Mit dem Reste hatte er sich 16 Jahre lang ununterbrochen in die Wildniß hineingehackt und gehauen, und ihr allmälig etwas Boden für Saaten und Viehfutter abgezwungen. Er wohnte in einem Hause, das ganz aus Urwald zurechtgehackt war, mit Meubles und Betten, alle der Wildniß abgewonnen. Erst fanden sich einzelne kühne Auswanderer auf seinem Terrain ein, dann mehr und mehr, bis er förmlich in die Mode kam, da sich von seiner Regierung, deren weltliche und geistliche Gewalt er persönlich in sich vereinigte, so daß er taufte, trauete, Strafen und Lohn dictirte, Steuern beschloß und eintrieb, die romanhaftesten Geschichten verbreitete. Seine erste Stadt, St. Thomas, blühte rasch auf, dazu kamen Fort Talbot und 1827 London, dann immer mehr, so daß das eigentliche „Talbot-Land,“ wo 1803 von 40 Menschen 25 verhungert und erfroren waren, jetzt 30 Städte, 200,000 Morgen cultivirtes Land und unzählige Farms und Dörfer mit 80,000 wohlhabenden und alle Tage reicher werdenden Bewohnern ausweisen kann. Der Held dieser Schöpfung starb am 5. Februar 1853 in London, seiner Hauptschöpfung, in einem Alter von 81 Jahren, ohne je eine Frau berührt zu haben. Nach Niederlegung seiner weltlichen und geistlichen Gewalt lebte er ruhig und einsiedlerisch in seinem Blockhause weiter, wo nur durch die Kühnheit und List seines Bedienten eine Frau Zutritt fand. Der Diener, des Junggesellenlebens müde, heirathete plötzlich eine Irländerin und brachte sie „auf Tod und Leben“ in’s Haus. Der alte Held schwieg und ließ sich gefallen, daß die Frau Haus und Küche besorgte. Sein Blockhaus, hingeklebt auf einen hohen, über den Erie-See hinausragenden Felsen, hätte ihn vielleicht noch länger am Leben erhalten; denn so wie er in die Civilisation von London kam, starb er. Seine Schöpfung ist eine der großartigsten und heldenmüthigsten in der Geschichte, seine Eroberungen sind für jeden Schlachtenhelden und Länder- und Völkerunterjocher das wirkliche Brandmal.

Man vergleiche unsere historischen, in Geschichtsbüchern genau beschriebenen und in Examen abgefragten Eroberungen mit denen eines Talbot. Cäsar, Alexander, Napoleon haben so und so viel Städte und Dörfer verbrannt und so und so viel Hunderttausende von Menschen umgebracht, deshalb heißen sie große Männer der Geschichte. Thomas Talbot hat hunderttausend Bäume niedergehauen und Tausende von Häusern und Tausende von Menschen darin und ihren Reichthum und Wohlstand geschaffen und eine Kultursonne entzündet, deren Strahlen fortwährend nach allen Seiten Wildniß vertreibend, Wälder lichtend, Leben und Bildung erzeugen und erwärmen. Und Thomas Talbot steht in keinem Geschichtsbuche.

Meine abenteuerliche Reise von Toronto durch die kanadischen Grenzgebiete und ihre noch barbarischen Zollhäuser, Zöllner und Sünder, die Versetzung über den St. Clair-Fluß nach den nordamerikanischen Freistaaten, zunächst nach Detroit in Michigan, durch civilisirte Indianer-Niederlassungen auf der Melville-Insel (im St. Clair) und gedeihende Dörferreihen entkommener Sklaven am kanadischen Ufer des St. Clair darf ich nicht skizziren, da dies Alles in’s Bereich persönlicher Erlebnisse und Empfindungen darüber fallen würde, Sie mich aber versichern, daß dem deutschen Leser an meinen persönlichen Erlebnissen nichts liegen könne. Ich bemerke hierzu nur, daß ich persönliche Begegnisse nur insofern mit berührte, als sie zur Charakteristik amerikanischer Verhältnisse beizutragen geeignet erschienen, durchaus nicht in Voraussetzung einer Theilnahme an der Person eines Unbekannten. Reisende haben das immer so gemacht. Und das ist richtig. Auf Reisen hat man eben nicht Zeit, einzelne Parthieen gründlich und geschlossen zu studiren und darzustellen, deshalb hält man sich an das

Anmerkungen (Wikisource)

  1. North Dumfries (Ontario); Vorlage: Dumhries
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 637. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_637.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)