Seite:Die Gartenlaube (1854) 620.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„Ich hoffe, Du wirst meine kleinen Geheimnisse ehren!“

„Geheimnisse des Herzens – gewiß! Aber so viel darf ich wohl erfahren, ob Du mit dem Inhalte des Briefes zufrieden bist?“

„Väterchen,“ sagte Concordia mit strahlenden Blicken, „Vetter Arnold ist ein guter und dabei sehr verständiger Mensch, den ich hoch schätze, obgleich ich ihn nur kurze Zeit kennen gelernt habe. Sein Brief ist so schön, daß er mich mit unbeschreiblicher Freude erfüllt hat. Noch heute werde ich ihm die Antwort schreiben und ihn einladen, daß er das Weihnachtsfest bei uns feiert.“

Pastor Braun hielt nichts für gewisser, als daß die beiden jungen Leute sich gegenseitig erklärt hätten. Er glaubte seinen Lieblingswunsch in Erfüllung gehen zu sehen.

„Dann, mein Kind, wünschest Du auch wohl,“ fragte er fröhlich, „daß unsere Gemeinde den zukünftigen Pfarrer kennen lerne?“

„Je eher, je lieber, da Du doch einmal den Vetter zu Deinem Nachfolger vorschlagen willst.“

„Gut; so schreibe ihm, daß er sich vorbereite, in der Christmesse die erste Predigt bei uns zu halten. Ich halte das für die beste Gelegenheit, einen neuen Prediger einzuführen; die Gemeinde ist feierlich gestimmt und der Redner hat ein dankbares Thema. Auch ich werde Deinem Briefe einige Zeilen beifügen.“

Vater und Tochter waren denselben Abend mit Schreiben beschäftigt. Am nächsten Morgen wurden beide Briefe in ein Couvert geschlossen und abgesendet.

„Ein Versprechen fordere ich von Dir, lieber Vater!“ sagte Concordia, als der Bote mit dem Briefe sich entfernt hatte.

„Was willst Du, mein Kind?“

„Du versprichst mir, bei keinem andern zu wohnen, als bei mir und Deinem zukünftigen Schwiegersohne. Die Mutter ist bereits damit einverstanden.“

„Thörichtes Mädchen, wohin sollte ich mich denn sonst wenden?“

„Gleichviel, ich fordere das Versprechen!“ rief sie schelmisch.

„Gut, ich gebe Dir es hiermit!“

Concordia flog dem Vater an den Hals und bedeckte seine Wange mit Küssen.

„Sie ist glücklich,“ dachte der Greis, „könnte es doch auch die arme Cäcilie sein.“

Um Mittag ging Pastor Braun nach dem Schlosse. Wie der Arzt befürchtet, hatte sich Cäcilien’s ein Fieber bemächtigt, das einen gefährlichen Charakter anzunehmen drohte. Die Kranke hatte die ganze Nacht in Fieberphantasien verbracht. Der gute Pfarrer mußte die ganze Kraft seines geistlichen Zuspruchs aufbieten, um die der Verzweiflung nahe Mutter zu trösten. Sie klagte sich selbst der Schuld des Unglücks der geliebten Tochter an, und vorzüglich deshalb, da sie aus zu großer Nachgiebigkeit die unsichere Hoffnung in Cäcilien genährt habe, eine Vereinigung mit dem Gegenstande ihrer Leidenschaft herbeizuführen. Wir unternehmen es nicht, die Angst und Bekümmerniß der Hofräthin zu schildern, mit der sie während der nächsten vierzehn Tage an dem Krankenbette der Tochter wachte. Nur dann erst, als der Arzt die Gefahr für beseitigt erklärte, gab sie sich neuer Hoffnung und einiger Ruhe hin. Cäcilien’s jugendliche Kraft hatte der Krankheit getrotzt, und die Krisis war überstanden. Es schien selbst, als ob mit der nun eintretenden Genesung Ruhe und Friede in das Gemüth des jungen Mädchens zurückkehrten. Sie empfing den Pastor freundlich und bat ihn, oft seine Besuche zu wiederholen.

Am funfzehnten Tage konnte Cäcilie das Bett verlassen. Der Arzt rieth Zerstreuung und vorzüglich den Umgang mit einem heitern lebensfrohen Mädchen. Eine passendere als Concordia ließ sich dazu nicht finden. Der Vater bereitete die Tochter vor, und noch waren nicht acht Tage verflossen, als sich zwischen den beiden Mädchen ein erfreuliches Freundschaftsband gebildet hatte. Die Munterkeit Concordia’s übte einen so heilsamen Einfluß aus, daß sich Cäcilien’s Schwermuth in eine stille Melancholie verwandelte. Man sah es deutlich, daß die arme Blinde mit aller Kraft darnach strebte, auf die fröhlichen Unterhaltungen ihrer neuen Freundin einzugehen, und es war ein rührender Anblick, wenn sie über die Scherze des muntern Mädchens lächelte.

„Wie bedauere ich,“ sagte die Hofräthin zu dem Pfarrer, „daß ich mein Kind nur auf den Umgang mit mir beschränkt habe – es war eine zu ängstliche Vorsicht; vielleicht wäre Alles anders, wenn Cäcilie früher eine Freundin gehabt hätte.“

„Das Gute kommt nie zu spät!“ antwortete der Pastor. „Jetzt dürfen wir nicht mehr zagen. Die Heilung geht langsam, aber sicher von Statten, so daß nach meiner Ansicht die Hülfe aus der Residenz überflüssig erscheint, selbst wenn wir sie hätten erlangen können.“

„Haben Ihre Forschungen ein Resultat gehabt?“ fragte eifrig die Hofräthin.

„Ja. Gestern erhielt ich einen Brief von meinem Correspondenten, und ich theile Ihnen die betreffende Stelle mit. Hier ist sie.“

Der Pastor holte einen Brief hervor und las:

„Sie fordern, mein bester Onkel, Auskunft über den Prediger, der in dem Dome unserer Residenz die letzte Weihnachtspredigt gehalten hat. Kann ich mir auch Ihre Gründe nicht erklären, so will ich dennoch nach bestem Wissen und Gewissen die Fragen beantworten, die Sie in Bezug auf seine Person aufgeworfen haben. Obgleich der Kandidat, den Sie im Sinne haben, mein einziger und vertrautester Freund ist, so soll mich doch nichts abhalten, Ihnen unumwunden das Urtheil abzugeben, das ich mir über ihn gebildet habe. Sie erlassen mir die Nennung seines Namens, der Ihnen ohne Zweifel gleichgültig sein wird, wenn Sie mein Urtheil gelesen haben.“

„Mein Gott,“ flüsterte die Hofräthin, „die Einleitung klingt trostlos.“

„Ich fahre fort, Madame. „„Ueber die Identität unsers Mannes können wir nicht in Ungewißheit sein, da ich genau weiß, daß kein anderer in verflossener Christmesse auf der Kanzel gestanden hat. Dieser Kandidat also ist ein Mann, der eben so wenig für die Welt paßt, als die Welt für ihn. Er ist der widerlichste Egoist, der sich denken läßt. Man hält ihn für einen Mann von Fähigkeiten; ich halte ihn nicht dafür, er ist vielmehr ein so trockener Philosoph, daß man ihn höchstens im Interesse der Wissenschaft zu philosophischen Experimenten benützen kann. Sein Herz ist kalt und verschlossen, und wenn ihn nicht der leidige Eigennutz an meine Person fesselte, er würde mich kalt und verächtlich behandeln, wie Alles, was ihn umgiebt. Er ist ein Anachoret mitten in der großen, wogenden Gesellschaft, ein Sonderling, den man hassen muß, wenn man nicht über ihn lacht oder ihn bedauert. Hoffnungen für das Leben auf ihn zu bauen, wäre eben so thöricht, als eine Aenderung seines Wesens zu erwarten.““

Der Pfarrer schloß das Papier, indem er sagte:

„Mein Neffe, der Verfasser des Briefes, ist nicht allein ein scharfsichtiger, sondern auch ein redlicher und zuverlässiger Mann, so daß ich sein Urtheil für unumstößlich halte. Dem Himmel sei gedankt, Frau Hofräthin, die Kranke wird genesen, ohne daß wir nöthig haben, zu diesem seltsamen Menschen unsere Zuflucht zu nehmen.“

„Wohl muß es ein seltsamer Mensch sein,“ meinte die verwunderte Dame. „Ich habe seine Predigt gehört und muß bekennen, daß sie mich begeistert hat.“

„Man findet nicht selten, daß Männer von ausgezeichneten Geistesgaben dem geselligen Umgange völlig verschlossen sind. Man möchte glauben, daß die Natur den Geist auf Unkosten des Herzens bevorzugt hat. Ein solcher Fall scheint hier vorzuliegen.“

Die Hofräthin war zufrieden mit der Gestaltung der Verhältnisse, und als der Arzt erklärte, er könne der Genesenden eine Winterreise nicht gestatten, richtete sie sich für den steten Aufenthalt im Schlosse ein.

(Schluß folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_620.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)