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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Wasserlinie befindlich, sofort das Schiff füllte und von Außen angebrachte Segeltücher nicht schlossen, weil Eisensplitter von der „Vesta“ die Wunde umgaben. Nach zwei Stunden, während welcher das Schiff bis auf etwa 20 Meilen nach dem Lande gekommen war, erreichte das Wasser die Maschinenräume und verlöschte das Feuer.

Capitain Luce verliert den Kopf! Er läuft auf dem Deck hin und her, giebt unsinnige Befehle, welche von seinen 150 Schiffsdienern (aus der niedrigsten Hefe von Ireländern) verspottet werden, da diese dem Kopflosen gegenüber ihre eigenen Köpfe brauchen. Sie bemächtigen sich rücksichtslos der 5 Boote und wehren mit Colt’schen Drehpistolen die zartesten Frauen, Töchter und Kinder der vornehmsten amerikanischen Gesellschaft ab.

Von den 300 Passagieren gehörten beinahe die Hälfte reichsten d. h. vornehmsten, höchsten amerikanischen Familien an. Sie hatten Vergnügungsreisen in’s alte England gemacht und kehrten eben zurück. Unter ihnen war auch Collies selbst mit Familie, der große gefeierte Held des amerikanischen Postgoaheadism! Das Meer hatte mit seinem Ruhme und seinem Gelde eben so wenig Erbarmen als die 150 Schiffsdiener: er verschwand spurlos mit aller seiner Herrlichkeit.

Das Schiff arbeitete 4 entsetzliche Stunden an seinem Tode und war während dieser Zeit Zeuge der entsetzlichsten, brutalsten Scenen, deren man Menschen gewiß nicht leicht fähig halten wird. Unter den 420 Passagieren waren über 150 Frauen und Kinder. Unter den 120 Geretteten ist nicht ein einziges weibliches Wesen, nicht ein einziges Kind. Man denke hier an die Engländer auf Birkenhead! Die grobknochigen, athletischen Feiglinge der Schiffsbedienung warfen die zarten Wesen, Mütter mit wunderschönen lockigen Kindern auf den Armen – die ausgesuchtesten Schönheiten aus Amerika’s berühmter Flora – mit starken, Fäusten und Fußtritten zurück, wenn sie Rettungsversuche in ihre Boote machten, obgleich viele davon mehr Personen tragen konnten. Gegen Männer richtete man, wie gesagt, eben so feige Colt’sche Revolvers. Dabei entwickelten die Ireländer – trunken durch die plötzlich umgekehrten socialen Verhältnisse – als Herren einen entsetzlichen Humor, in dem sie sich mit Proviant und sonstigen Schätzen versahen und ihre Abfahrt vorbereiteten. Die Demoralisation und Bestialität des einem unmoralischen Systeme Unterworfenen trat in ganzer Entsetzlichkeit hervor, wie es sich immer zeigen wird, wenn gewaltsame Bande von Systemen, welche Humanität und des Menschen heiligste Ansprüche und Rechte einem Götzen unterwarfen – durch plötzliche Eingriffe höherer Mächte ohnmächtig und feig zusammenbrechen und reißen. Ordentliche Herrschaft und Bedienung hätten hier, wie wir es in einem Briefe aus Amerika näher aus einander gesetzt finden, alle Passagiere retten können, obgleich nicht durch Boote, denn solche Fürsorge wäre zu kostspielig gewesen und hätte vielleicht der Schnelligkeit Eintrag gethan. Aber die Zeit reichte vollkommen hin, die Bretter der Radgehäuse, Ober-Kajüten u. s. w. zu einem großen Floßwerk zusammenzuschlagen und mit Mast und Segeln zu versehen, groß genug, alle Personen aufzunehmen und dem Lande zuzuführen. Dazu gehörte freilich ein ganzer Mann, nicht ein feiger Sklave des Goaheadism, und eine ganze, einsichtige, gehorsame Bedienung.

Man kann es dem Capitain noch zum Ruhme anrechnen, daß er nicht mit seinen feigen brutalen Bestien das Schiff verließ, sondern aushielt und mit seinem Sohne im Arme – der einzige noch zurückgebliebene Offizier – unterging. Daß er aber nach seiner wunderbaren Rettung, mit Verlust seines Sohnes – in New-York wie ein Halbgott empfangen und wie das goldene Kalb der Wüste förmlich angebetet ward, läßt sich nur durch eine Art von Wahnsinn im amerikanischen Leben erklären, vielleicht aus dem Wahnsinn der Goaheadism-Abgötterei. Vielleicht betet man in ihm den tragischen Helden dieses Cultus an und will zeigen, daß er als Schuldiger an dem Tode von 300 selbst sehr reicher Personen gar nicht in Betracht komme gegen seinen Heroismus, durch Schnelligkeit sich auf der Börse Lorbeeren zu erwerben. Alle Verhältnisse betrachtet, konnte man den Schuldigen bemitleiden, verachten oder ihm auch Glück wünschen zu seiner wunderbaren Rettung, aber ihn wie einen Triumphator von Stadt zu Stadt zu empfangen und ihm in New-York das Prachtzimmer des Rathhauses anzubieten, daß er sich hineinsetze, um dort die Huldigungen der Anbeter zu empfangen, das ist ein Umstand, den der Arzt eigentlich nur in einem Irrenhause, die Menschheit aber nicht in der Hauptstadt der vereinigten Republiken Amerika’s finden sollte.

„Mir ist der Mensch oberstes Princip,“ rief G. Sand bei Gelegenheit der Rettung eines Menschenlebens, als man ihr vorwarf, daß sie bei dieser Rettung ihr – politisches Princip verleugnete. Die Amerikaner scheinen vor ihrem goldenen Kalbe im Prunkzimmer des New-Yorker Rathhauses auszurufen: „Uns sind die Baumwollenpreise, die Schnelligkeit der Marktberichte und Course oberstes Princip, denn wir vergessen ihm gegenüber mehr als 300 unserer Weiber und Kinder und reichsten Geldfürsten. Letztere sind ja blos Personen.“

Kein Zorn, keine Scham über die brutalste Scene der schauderhaftesten Menschenopfer in den Armen ihres Molochs, nein Entschluß zu sühnen, sich zu bessern, menschlich handeln zu wollen, ein blos anbetendes Entzücken über den Märtyrer, den geretteten Urheber von 300 Mordthaten, weil er litt und entlief im Dienste des obersten National-Molochs.

Capitain Luce wurde unter den schwimmenden Trümmern des gesunkenen Schiffs, mit dem Sohne im Arme, unter 300 Sinkenden und Aufkreischenden umhergeschleudert, bis ein aus dem Wasser hervorschießender Balken ihm das Kind erschlug. Jetzt rettete er sich auf ein Stück des losgebrochenen Nothgehäuses, wo noch zehn andere Personen sich über Wasser hielten. Auf diesem Stück wurden die Unglücklichen bis über die Knieen im Wasser stehend, und immer geschleudert und geschüttelt, so daß bald dieser, bald jener in die Fluthen gerissen ward, zwei Tage und zwei Nächte umhergetrieben. Ein Segelschiff, welches endlich herbeikam, fand nur noch drei Personen zu retten: Luce, den reichen Fabrikanten Allee aus New-York und einen deutschen Matrosen, Ferdinand Keyn aus Sondershausen.

Unter den Zehn war während der ersten acht Stunden eine junge, zarte Mutter mit einer zehnjährigen Tochter gewesen. Beides ungemein schwache, feine, blasse Gestalten in reichster Kleidung, die jetzt fast an den zarten, zitternden Gliedern klebt. Die Mutter versprach Tausende von Dollars, wenn man sie rette, versprach alle ihre und ihres Mannes Reichthümer, wenn man wenigstens ihr Kind dem Vater rette, versprach dem Himmel ihre und aller Ihrigen Seelen; aber nur schwach waren und blieben einzelne Griffe des Beistandes, wenn große Wogen über Alle hinwütheten, so daß Jeder mit sich zu thun hatte. Eine besonders gewaltige Woge aus Nacht und Nebel hervorschießend riß Mutter und Tochter und auch zwei Andere fort. Ihr Kreischen verhallte in der Tiefe.




Aus den Kämpfen vor Sebastopol.

Wir führen heute unsern Lesern einige der verschiedenen Kampfweisen vor, die bei den mörderischen Schlachten um Sebastopol am Meisten in Anwendung kommen, und wodurch die französischen Scharfschützen mit ihren weittragenden Büchsen zum Schrecken der Russen geworden sind.

Der Platz der Scharfschützen, Jäger zu Fuß, ist meist in den Trancheen (Laufgräben), deren Anlegung vor Sebastopol äußerst schwierig war, weil das felsige Terrain durchschnittlich nur mit zwei Ellen steiniger Erde bedeckt ist, welche im Aufwurf wenig Schutz gegen die Kugeln der Artillerie gewährte und weshalb daher meist mit Erdsäcken nachgeholfen werden mußte. Durch die Schießscharten der Trancheen unterhalten die Jäger ihr mörderisches Feuer; häufig sind es nur Löcher, groß genug für einen Mann, wo sie drin stehen, und an der angebrachten Schießscharte eifrig die Gelegenheit zum Schuß erwarten. In offener Feldschlacht sind die Jäger wieder unter den Vordersten, und kriechen mehr als

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_613.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)