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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„O, wie danke ich Dir diese Fürsorge, Mutter!“ rief Cäcilie, indem sie sich an ihre Brust warf. „Du begräbst Dich mit mir in diese Einsamkeit und entsagst den Freuden des geselligen Lebens, weil sie für Deine blinde Tochter nicht geschaffen sind. Es macht mir Kummer, daß ich Dein Dasein an das meinige fesseln muß.“

Die Mutter ergriff beide Hände ihrer Tochter, die sie sanft in den ihrigen drückte.

„Cäcilie,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „Du willst mich, die ich Dich ganz kenne, an Dein Glück glauben machen, während ich sehe, daß eine Veränderung in Deinem Innern vorgegangen ist. Du lächelst, aber Dein Herz leidet. Willst Du, daß ich mit Dir leide, mein Kind? Willst Du meinen Schmerz dadurch erhöhen, daß Deine Verschlossenheit mir die Möglichkeit nimmt, ganz für Dein Glück zu sorgen? Wem in der Welt könntest Du Dich vertrauen, wenn nicht mir? Cäcilie, ich habe es bisher vermieden, diesen Punkt ernstlich zu berühren – jetzt vermag ich es nicht mehr, und wenn Du Anstand nimmst, offen zu sein, so muß ich Dich an Deine Pflicht mahnen.“

„An meine Pflicht!“ hauchte sie kaum hörbar vor sich hin, und Thränen erschienen in dem blinden Auge. „Ja, es ist meine Pflicht,“ fügte sie lauter hinzu, „und ich will ihr genügen. Mutter, Du hast Recht, es ist in mir eine Veränderung vorgegangen, die ich Dir mit Anstrengung verbergen wollte. Ach, und ich folgte Dir gerne in diese Gegend, weil ich in der Einsamkeit eine peinliche Regung zu unterdrücken hoffte, die ein Zufall in der Stadt vergrößern konnte. Sind wir unbelauscht, Mutter?“ fragte sie ängstlich.

„Es ist Niemand in der Nähe!“

„So höre das tiefste Geheimniß meines Herzens, des einzigen, das es vor Dir birgt. Wenn Du es kennst, wirst Du mir verzeihen, daß ich es in mich zu verschließen suchte, denn ich wollte ja nur allein leiden. Du führtest mich an dem letzten Christabende in den Dom der Residenz, um mir eine Weihnachtsfreude zu bereiten, meinem Geiste, Mutter, weil die Blinde einer andern nicht theilhaftig werden kann. Die herrliche Musik erhob und begeisterte mich; ich sah die tausend Kerzen nicht, von denen Du sagtest, daß sie das Gotteshaus erhellten; aber andächtige Begeisterung hatte mein Inneres mit einem wunderbaren Lichte erfüllt und die jubelnden Töne der Weihnachtshymne trugen mich in eine lichte Sphäre. Entzückt lauschte ich den gewaltigen Harmonien noch, als sie längst verklungen waren, sie tönten noch fort in meiner erregten Brust. Da erhob sich plötzlich die Stimme des Predigers, eine Stimme, Mutter, so wohlklingend und schön, daß sie den Eindruck der Musik verscheuchte. Aber nicht die Stimme allein war es, die so seltsam wunderbar mein Herz bewegte, auch die Worte waren es, die sie sprach. Welche Kraft, welches Feuer und welche Empfindung lag in dem Vortrage des Kanzelredners! Wie klar und schön war seine Anschauung von dem Ereignisse, das die Christenheit durch ein Fest feierte! Frömmigkeit und Verstand hatten ihm die Worte dictirt, die seine jugendliche, herrliche Stimme der Versammlung zurief. Mit steigender Spannung verfolgte ich die Rede, und als sie geendet, war ich so von dem Geiste derselben durchdrungen, daß mir das Leben ein anderes geworden zu sein schien. Und ach, Mutter, auch ich selbst war eine andere geworden!“ fügte sie erröthend hinzu. „Der Zustand meines Herzens war mir fremd, aber er gewährte mir eine schmerzliche Freude. Anfangs begnügte ich mich mit der Erinnerung an seine schöne Stimme, die mir herrlicher klang, als Musik, denn – ach, Mutter, ich mußte an ihn denken ohne es zu wollen – dann schuf sich meine Phantasie ein Bild von ihm, und dieses Bild steht immer vor mir, ich mag wachen oder träumen. Eine unbestimmte Sehnsucht erfaßte mich – Du führtest mich später wieder in die Kirche, ich hörte einen andern Prediger, aber die Sehnsucht war nicht befriedigt. Ein wunderbares geistiges Band knüpft mich an den Mann, den ich für jung und schön halte. Mutter, es bildete sich ein Gefühl in mir aus, das ich nicht anders als – Liebe nennen kann.“

Cäcilie verbarg ihre in Thränen gebadeten Augen an der Brust der Mutter, die erbleichend nach Fassung rang.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Künstler-Bild.

Die Donner der letzten polnischen Revolution verhallten in Warschau, und zitterten noch nach durch das Herz eines kaum zwölfjährigen Knaben, der in dem ärmlichen Zimmer eines ärmlichen Hauses der Vorstadt saß, feuchten Auges, und mit zitternden Händen ein Thürschild bemalend. Neben ihm lagen Schulbücher des Lyceums, aber mit Staub bedeckt und in einen Lederriemen eingeschnallt. Ach, auch des Knaben Seele war eingeschnürt in dem eisernen Reifen der Noth und der Nothwendigkeit! Die Revolution hatte auch in sein junges Leben schreckbar eingegriffen. Seine Aeltern hatten vorher beschlossen, die schon früh sich zeigenden Talente des Knaben, mit Aufopferung des wenigen letzten Vermögens, in wissenschaftlichen Studium heranbilden zu lassen; der Knabe hatte schon eine erste Klasse im Lyceum betreten. Da kam die Revolution, sie nahm den Aeltern das für diese Ausbildung Bestimmte, und er mußte nun seine goldenen Träume von Bildung und Wissenschaft verfliegen lassen; er mußte Brot verdienen. Seine schon sehr schöne und sichere Handschrift ließ ihn zunächst Thür- und Schilderaufschriften ausmalen. Aber er hatte bereits gekostet vom Baume der Erkenntniß; die Segnungen und Beglückungen des Wissens ahnen gelernt, er strebte danach mit brennender Begier, – und er saß nun da: hungrig und kalt, wehmüthig und trotzig, jetzt auf die eingeschnallten Bücher, dann auf das farbenbeschmierte Bret blickend.

Seine schöne Handschrift auf den Thüren und Schildern zog ihm indessen schon bald die Aufmerksamkeit eines Sequestrators und eine Stelle als Schreiber bei demselben zu. Dort lernte ihn der Redakteur der Warschauer Gazette, Professor Kruzski kennen; beobachtete seine schon recht hübschen Schulkenntnisse und seine unermüdliche Wißbegier und nahm ihn dann als Schreiber auf sein Bureau. Er gab ihm Bücher, und guten Rath: wie dieselben am Besten zu benützen; er ließ ihn Sprachen lernen und des Knaben ungemeine Empfänglichkeit und Phantasie, bei eiserner Consequenz des Fleißes, ließen ihn schon mach zwei Jahren fertig Deutsch und Französisch sprechen und das Englische bis zum Lesen bringen. Nun wurde er aus einem Schreiber ein Uebersetzer; – aber immer fühlte er sich unglücklich, zerrissen bis zum tiefsten Grund seiner Seele; er strebte nach einem Besonderen, noch aber ihm Unbewußten; er strebte nach Wirken, That, Ehre, nach Schönem und Großem, er strebte eben wie jedes junge Genie strebt: „in dunklem Drange.“ Da auf einmal wurde dieser dunkle Drang ein klarer, lichtvoller; das Unnennbare, Unbewußte ein Bestimmtes, ein Ziel: er sah, wahrscheinlich zum ersten Male, ein großes Schauspiel auf dem ausgezeichneten ersten Theater seiner Vaterstadt, er sah darin den hochgefeierten Kudlicz, den ersten Schauspieler seines Landes, und da war es bestimmt in ihm:

„Schauspieler werden! Ein großer Schauspieler, ein zweiter Kudlicz!“

Rasch und energisch wie immer, ging er schon andern Tages zu Kudlicz hin, seine Wünsche und alle seine Verhältnisse mit lebendigen, frischen Farben der Leidenschaft ihm vortragend. Daraus allein schon glaubte Kudlicz sein Talent ahnen zu können; der Jüngling hatte ihn sofort gewonnen und der edle Künstler, der zugleich Professor war an der ausgezeichneten Theaterschule, womit das sogenannte „rohe“ Polen das sogenannte „gebildete“ Deutschland noch immer beschämt, bewirkte seine Aufnahme in dieselbe. So wurde er, im Jahre 1835, und 18 Jahre alt, academischer Schüler seiner Kunst. Schon nach zwei Jahren, nach glücklich abgelegter Probe, debütirte er als wirkliches Mitglied des ersten Theaters zu Warschau, mit 15 Thalern Monatsgage und natürlich noch als sehr untergeordnetes Mitglied. Aber er fühlte seine Kraft wachsen und wachsen; er wollte spielen, viel spielen, jeden Tag; und nicht ein Fach, sondern Alles; d. h. er wollte Menschen, nur Menschen, kein Rollenfach darstellen. Er ging deshalb schon bald zu einem kleineren Theater, nach Wilna. Hier

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