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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 49. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Die Blinde.
Weihnachtserzählung von August Schrader
I.

Mild und freundlich, bevor sie von der Erde schied, beschien die Julisonne die Häuser des reizend gelegenen Dorfes G. In dem weißen Kirchthurme mit seinem stumpfen Schieferdache ward die Abendglocke geläutet, und von den nahen Wiesen herüber hörte man das Geläute der heimkehrenden Heerden. Vor den Thüren der Häuser standen Kinder und Frauen, harrend der blanken Kühe und Rinder, die durch Brüllen ihre Nähe ankündigten. Auch die fleißigen Feldarbeiter erschienen nach und nach in den belebten Gassen, folgend dem verhallenden Abendrufe der Glocke.

Um diese Zeit gingen zwei Männer langsam zwischen den Häusern hin. Der eine war ein freundlicher Greis von mittlerer Gestalt, dessen schwarze Kleidung und weißes Halstuch den geistlichen Herrn verrieth. Er mußte viel danken, denn von allen Seiten kamen dem geehrten und geliebten Pfarrer freundlich ehrerbietige Grüße entgegen. Der andere war ein junger Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren; er trug einfache, aber elegante dunkele Kleider, welche seine schönen männlichen Körperformen deutlich abzeichneten. Sein bleiches Gesicht war völlig von großen Blatternarben zerrissen; aber es sprachen sich Geist und Gutmüthigkeit darin aus, und das große dunkelblaue Auge unter den starken Brauen spiegelte einen festen, energischen Charakter ab. Eine Salondame, in dem Geschmacke unserer Zeit gebildet, würde dieses Gesicht unbedingt häßlich genannt haben; dem Beobachter aber mußte es wegen seines Ausdrucks von Interesse sein.

Arnold Bließ, Kandidat des Predigtamts, war zum Besuche bei seinem Onkel, dem Pfarrer Braun. Der junge Mann hatte früh schon seine Aeltern verloren, und dadurch wäre er gehindert gewesen, die angefangenen Studien fortzusetzen, wenn der Onkel, der nur eine Tochter besaß, ihn nicht großmüthig unterstützt hätte. Harrend eines Amtes, lebte er nun in der ziemlich entfernten Residenz, wo er sich durch Unterricht und schriftstellerische Arbeiten gerade so viel erwarb, daß er seinem Stande gemäß existiren konnte, ohne ferner die Hülfe des guten Onkels in Anspruch zu nehmen.

Die beiden Männer hatten das Dorf durchschritten. Da zeigte sich plötzlich ein großes Eisengitter, durch dessen Stäbe man die Aussicht in einen weiten, aber nicht im besten Zustande befindlichen Park hatte. Hinter einer entfernten Baumgruppe hervor ragte das Schieferdach eines hohen, stattlichen Gebäudes mit seinen Zinnen und Thürmchen.

„Folge mir!“ sagte lächelnd der Pfarrer, indem er das angelehnte Thor öffnete. „Ich werde Dir jetzt die einzige Merkwürdigkeit unsers Dorfs, aber vielleicht die größte der ganzen Provinz zeigen.“

„Dieses Schloß?“ fragte Arnold, den Park betrachtend.

„Es ist ein Denkmal der Baukunst aus dem sechszehnten Jahrhundert, wohlerhalten durch die Grafen von Krayen, die es von Vater auf Sohn bis vor zehn Jahren bewohnten. Der letzte Sprößling dieser edeln Familie machte eine eben nicht ehrenvolle Ausnahme – als er nach dem Tode seines Vaters das zwar nicht sehr reiche, aber immerhin beträchtliche Erbe erhielt, ergab er sich einem verschwenderischen, leichtfertigen Leben, und man sah ihn nur dann auf dem Schlosse Krayen, wenn er ein Ackerstück oder ein Gehölz verkaufte. Die schöne Besitzung ist nun völlig zerrissen, Aecker, Wiesen und Waldungen sind dahin, und dieses Gitter umschließt alle Zubehörungen des Schlosses, das seit drei Jahren ein alter Kastellan verwaltet. Von dem leichtsinnigen Grafen ist weiter nichts bekannt, als daß er in der Residenz lebt, und dem Spiele und dem Trunke ergeben ist. Man fürchtet allgemein, daß er auch den letzten Rest der Besitzung veräußern werde. Aber wer wird dieses alte Gebäude kaufen, das nichts einträgt und höchstens zu einem Sommeraufenthalt benutzt werden kann?“

Der Pfarrer hatte seinen Neffen auf einen Hügel geführt, von wo aus man das alte ehrwürdige Schloß völlig übersehen konnte. Die in Stein gehauenen Bogenfenster mit den schweren Verzierungen blitzten, von der Abendsonne beschienen, wie Stahlplatten. Ein großes gothisches Fenster, das der Kapelle, glühte dunkelroth wie Gold, denn die Scheiben desselben waren bemalt. Guirlanden von Weinreben und wildem Epheu schlängelten sich von der Terrasse bis zu dem hohen Söller hinauf, der in der Mitte des ersten Stockes lag und von vier starken Säulen getragen ward. Zwischen diesen Säulen befand sich die große Eingangsthür, zu der eine stufenreiche Steintreppe führte. Weder in dem Parke noch in der nächsten Umgebung des Schlosses zeigte sich ein menschliches Wesen; in dem hohen Grase der weiten Beete weideten zwei weiße Ziegen, über die hinweg ein Schwarm Schwalben seine leichten Spiele trieb, und in den stillen Wipfeln der riesigen Ulmen sangen einzelne Vögel ihr Abendlied. Arnold schwelgte in den Reizen der prachtvollen Landschaft, mit stummem Entzücken betrachtete er das graue Schloß, und unwillkürlich schuf sich seine Phantasie abenteuerliche Gestalten zu Bewohnern des romantischen Gebäudes. Der greise Pfarrer, der das für Poesie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_589.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2016)