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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

duftig 12 Meilen lang in den blauen Wogen des riesigen Flusses. „Die tausend Inseln“ sind schon jetzt das Ziel von Tausenden, die in New-York u. s. w. der glühenden Sommerhitze entfliehen wollen. Hier und da erhebt sich ein weißer Palast, eine schöne Villa aus dem Grünen, um sich im Flusse zu spiegeln; wie wird’s hier in 20 bis 30 Jahren aussehen? Mancher sorgenvolle, um sein Leben und seine Kinder bekümmerte Einwanderer sitzt hier einst reich und glücklich im Kreise der Familie und Freunde unter dem Portikus seines fürstlichen Hauses und blickt auf seine Blumen und Bäume und hinaus auf das freudige Gewimmel von Dampfschiffen, Gondeln und Kähnen, die sich lustig zwischen tausend Inseln umhertummeln, und sieht mit Wohlgefallen in seine hohle Hand, aus welcher die weiche Sommerluft und die Güte seines Schicksals die harten Schwielen verwischt, und in sein Gesicht, aus welchem ein glückliches Alter die Furchen seiner Jugend wegglättet, und die lockigen, rothwangigen Kinder hören auf zu spielen und horchen der seltsamen Sprache, die der Vater oder Großvater mit einem alten Landsmanne aus Deutschland spricht.

In Kingston hielt ich mich blos eine halbe Stunde auf; ich kann also von den breiten Straßen mit bläulich-weißen Kalksteinhäusern und dem prächtigen Hafen weiter nichts sagen, als daß ich drüber hingeblickt habe. Das Dampfschiff, welches mich über den Ontario-See hinweg nach dem 36 deutsche Meilen entlegenen Toronto bringen sollte, ließ mir keine Zeit weiter. An der kanadischen Seite hin kämpfte der luxuriöse Palast mit seiner riesigen Dampfkraft fortwährend siegreich mit den ärgerlichen Wogen, die hier in einer Länge von etwa 40 deutschen Meilen (mit 14 Breite) ganz den Charakter des großen Meeres annahmen. Der Capitain sagte mir, daß der Onlario-See 234 Fuß über dem Spiegel des atlantischen Meeres liege, so daß der Lawrence in einer Länge von blos 130 deutschen Meilen um eben so viel fallen muß. Dies erklärt die ungeheueren Stromschnellen und die unzählige Masse kostbarer, zum Theil fabelhaft großartiger Kanäle, durch welche Kunst und Kapitalkraft dem mächtigsten Strome Trotz bieten. Der See ist stellenweise 600 Fuß tief, so daß sich das Wasser verhältnißmäßig warm hält und im Winter niemals friert. Deshalb genießt auch die ganze ungeheuere Landmasse, welche den See einschließt, ein bedeutend milderes Klima, als andere Gegenden Canada’s, wo der Winter zum Theil eine eben so sibirische Strenge erreicht, als der Sommer mit tropischer Hitze wetteifern soll. Der Ontario-See ist das mittelländische Meer der neuen Welt, um dessen milde, fruchtbare Gestade sich cultivirtere und reichere Völker ohne nationale Barbareien erheben werden, wie um das alte, welches Carthago, Rom, Griechenland, Frankreich, England und Spanien seit Jahrtausenden um politische Oberherrschaft blutig streiten sah und neuerdings noch Rußland fortwährend anspornt, sich der Schlüssel zu seinen Thoren zu bemächtigen, obgleich alle Völker vollkommen Platz haben, und eben so wenig Schlüssel und Thore nöthig sein würden, wie auf dem Ontario-See, wenn die alten Völker so – modern wären, wie die verschiedenen Völkermassen, die man kurzweg Amerikaner nennt.

Im weiten Sinne gehört zu dem „mittelländischen Meere der neuen Welt“ die ganze Reihe von Süßwasserseen, welche die nordamerikanische Halbinsel (zwischen dem Golf von Mexico und der Hudsons-Bay) in dem großen Becken des nordamerikanischen Continents von Nordwest nach Südost in einer Länge von mehr als 1000 deutschen Meilen durchschneiden und vom großen eisbedeckten, Eskimo-durchschwärmten Bärensee herunter bis zum grünen, milden Ontario fast überall durch natürliche Wasserstraßen und mit jedem Tage mehr durch Kunst verbunden werden. Das ist allein ein Vorzug Nordamerikas vor aller übrigen Erdoberfläche, der durch keine Cultur und Regierungsweisheit ersetzt werden kann, da die geringen Höhen von Flußgebieten ohnehin überall Canäle zulassen, durch welche man bald von den Lawrence- und Seengebieten in das ungeheuere Becken des Mississippi und Missouri hinübersteigen und selbst den stillen (jetzt bereits sehr lauten) Ocean erreichen wird. Diese Süßwasserseen nehmen zusammen einen Flächeninhalt von mehr als 40 Millionen Quadrat-Ackern ein und befruchten ein Landgebiet von 8–9000 deutschen Meilen. Sie übertreffen alle Süßwasser der übrigen Erde an Umfang und Wasserkraft.

Der Capitain, der sich immer ein Vergnügen daraus machte, die ungeheuern natürlichen Vorzüge seines Landes auseinanderzusetzen und durch verschiedene Specialkarten anschaulich zu machen, hielt auch gern Vorträge über die geologischen und mineralischen Schätze der vereinigten Staaten. Letztere sind für unsere Vorstellungen wohl durchaus fabelhaft und werden von Jedem, der nicht anderweitige Autoritäten studirt, zu den amerikanischen Windbeuteleien gerechnet werden. Was sagt z. B. der Leser von dem 700 Fuß hohen und 4 englische Meilen im Umfange messenden Berge von purem Eisen im Staate Missouri und der Behauptung unseres Capitains, daß man von ihm die Schienen zu einer Doppeleisenbahn rings um die Erde nehmen könnte, ohne daß man eine besondere Abnahme desselben merken würde? Daß im Staate Illinois allein Kohlen auf 30,000 Jahre für eine zehn- bis zwanzigfache Bevölkerung vorräthig lägen? Daß das jetzige Gebiet der Vereinigten Staaten mit Vergnügen 400,000,000 Menschen ernähren würde, wenn sie nur so gefällig sein möchten, herzukommen? Der Leser wird ohne Weiteres sagen: Das ist amerikanische Großprahlerei. Aber er mag sich denn auch die Mühe nehmen, andere Leute zu hören, welche genau und scharf studirt, gemessen und beobachtet haben. Ich erinnere mich, in deutschen und englischen Blättern Nordamerika’und Canada’s Auszüge aus Richard Wagner’s Buche: „Reisen in Nordamerika in den Jahren 1852 und 1853“ gelesen zu haben, welche diese enormen Zahlen- und Massenverhältnisse überall bekräftigen. Und so viel ich von dem Verfasser gehört habe (sein Buch selbst habe ich hier noch nicht gesehen), steht sein gründliches Wissen und seine genaue, scharfe Beobachtungsgabe außer Zweifel.

Unsere Reise den Ontario hinauf hatte außer den Genüssen, welche uns die hellgrünen Gestade der kanadischen Seite mit weißen Dörfern und Städten, unter welchen sich auch ein freundliches, lachendes Häusermeer mit dem gemüthlichen Namen Coburg zeigte, durch das Fernrohr gewährte, nichts besonders Merkwürdiges. Die Gestade sind größtentheils flach und nur weiter hinten und oben nach Toronto zu bekommt Alles ein malerisches, bilderreiches Gepräge. Doch bekam ich Toronto selbst vorläufig nur aus sehr weiter Ferne in seiner majestätischen Lage zu sehen, da ich zu denen gehörte, die sich mit der Dampfschiffgesellschaft, welche den Niagara-Fällen schon Hunderttausende von Dollars verdankt, nach jenem größten Naturwunder bringen ließen. Die Fahrt auf dem Ontario-See in den etwa eine halbe Stunde breiten Niagara-Fluß hinein, zeigte uns zunächst nur flache Ufer. Je weiter wir aber hinaufdrangen, desto mehr engte sich der Fluß zwischen steigenden Rändern, die sich allmälig bis zu 200 Fuß hohen Felsenwänden erhoben. Wir landeten in Lewiston auf der amerikanischen Seite, von wo aus die Niagara-Fälle hauptsächlich besucht werden, doch da der Capitain mich versichert hatte, daß sie von der canadischen Seile den besten Eindruck machten, lief ich in demselben Augenblicke zurück und mit dem Dampfschiffe weiter nach Queenstown hinüber. Hier wurden die Passagiere von Droschkenkutschern und Lastträgern beinahe meuchlings überfallen und Einige ziemlich handgreiflich mit Gewalt gepackt, hineingeschoben und fortgefahren. Um mich stritten sich zwei schwarze Burschen, die sich gegenseitig als wahre Halsabschneider schilderten, so daß ich mich vor dem Einen so gut gewarnt fühlte, wie vor dem Andern. Ich sprang, in den bedeckten Karren des Einen und fühlte mich sofort einen miserabeln, steilen Weg hinaufgerädert. Bald hatte ich die berühmten Queenstown-Höhen erreicht, wo der englische General Brock (1812) im Kampfe fiel und die jetzt eben mit einem neuen Denkmale versehen werden. Die Höhen laufen von hier aus um den Ontario-See herum bis nach Toronto und schließen manche Städte und Dörfer, zunächst das prächtig gelegene Hamilton und die große canadische West-Eisenbahn ein, welche von Erie aus oberhalb der Fälle am Niagara herunter und um den Ontariosee herumläuft und die östlichen und westlichen Theile Nordamerika’s, den atlantischen Ocean, den Mississippi und eine Menge der wichtigsten Handels- und Kulturplätze regelmäßig verbindet. Die Feierlichkeiten zur Einweihung dieser ungeheuern Bahn, welche am 17. Januar stattfanden, werden als eins der größten Festlichkeiten dieses Jahrhunderts geschildert. Die meisten Staaten hatten ihre Deputationen geschickt. New-York allein 400 Personen. In Detroit nahmen 2000 Personen an dem Festessen Theil. In Hamilton fanden ähnliche Festlichkeiten Statt. Und selbst in London konnten sich die Actionäre ein feierliches Festessen nicht versagen, als sie hörten, daß die Bahn während der ersten drei Monate im Durchschnitte 5000 Pfund Sterling wöchentlich eingenommen habe.

Um das Schauspiel der Niagara-Fälle in allen seinen Theilen zu genießen, stellte ich mich erst auf die 1040 Fuß breite

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_582.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)