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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Felix’s, welche Zuwachs an Kindern, aber nicht an Vermögen erhielten, waren sehr ungeduldig, die Vortheile, welche ihnen das Talent ihrer Tochter versprach, zu benützen. Sie liefen, sie drängten, sie trieben besonders Vater Felix, der die Sache gar nicht anders als seinen Handel mit alten Kleidern ansah.

Es fügte sich, daß der Direktor des „Gymnase“ bei einer Vorstellung der Chantereine gegenwärtig war, unsere junge Tragödin als Eriphile sah, und seine Verwunderung durch einen verhältnißmäßigen Antrag zu erkennen gab. Er lud die junge Schauspielerin zu sich, welche sich zur festgesetzten Zeit in Begleitung ihres Vaters einstellte.

„Welchen Gehalt sprechen Sie an, Fräulein, als Mitglied meines Theaters?“ frug Herr Poirson.

Das Mädchen sah, ohne zu antworten, den hebräischen Erzeuger an, der ohne Säumen in seinem Dialekt erwiederte: „Von 2000 Franken jährlich darf nicht ein Liard fehlen, Herr Direktor. Sie müssen besser wissen als ich, was meine Tochter werth ist.“

„Das denke ich selbst, und darum biete ich ihr 3000 Franken an, die jährlich um das Dritttheil vermehrt werden, wenn der Erfolg meinen Erwartungen entspricht.“

„So handeln habe ich mein Lebetag nicht gesehen,“ murmelte Herr Felix, nur von seiner Tochter verstanden, auf Deutsch vor sich hin, und zum Direktor gewandt sagte er:

„Ich unterzeichne sogleich, Herr Direktor.“

Die Sache ward ganz in Richtigkeit gebracht. Nach pariser Weise ward sogleich bei dem Handwerker Paul Duport ein Stück bestellt, mit einer Rolle, in welcher die junge Schauspielerin den ganzen Umfang ihrer Mittel und Fähigkeiten zeigen könnte. In kaum drei Wochen stand die „Vendeerin“ der Direktion des Gymnase zur Verfügung und wurde einstudirt. Herr Poirson sorgt dafür, daß die Presse mit Posaunenschall ein Wunder ankündigt, um ein zahlreiches Publikum zu den Vorstellungen zu locken. Die Spekulation schlug fehl. Mademoiselle Rachel hatte nicht den geringsten Erfolg und sie wird fortan nur mit untergeordneten Rollen bedacht. Nun kam der Moment, da die Tragödin die ganze Kraft ihres Willens, die Richtigkeit ihres Urtheils und ein gewaltiges, unüberwindliches Streben emporzukommen an den Tag legte.

Vater Felix war mit dem Verlauf der Dinge ganz zufrieden. Er hielt den unterzeichneten rechtsgiltigen Kontrakt in Händen, welcher ihm 3000 Franken jährlich zusicherte, und er sagte:

„Wenn ich meine Waare gut verkauft habe, was geht das mich an, wie man sie verwendet.“

Anders dachte die Tochter. Sie, die gerade nicht viel Thränen, weder entlockte noch geweinte unter ihren Perlen zählt, hat feuchte Augen, wenn sie darauf zurückkommt, was sie damals gelitten, was für Zweifel an ihrer Fähigkeit sie beschlichen und folterten, wie sie sich sorgsam prüfte, um herauszufinden, woran es ihr fehlte.

Nur großen Talenten ist es eigen ihre Kraft und Schwäche genau zu messen. Mademoiselle Rachel legte zu jener Zeit, da sie eine entmuthigende Niederlage erlitten, eine glänzende Probe ihrer künstlerischen Bedeutung ab; sie gab sich weder auf, noch schrieb sie, wie das bei Mittelmäßigkeiten gewöhnlich der Fall ist, die Erfolglosigkeit auf der kaum betretenen Laufbahn auf Rechnung äußerer Umstände und Verhältnisse wie Urtheilsunfähigkeit des Publikums, Intriguen ihrer Genossen u. s. w. Sie erkannte, daß ihrer theatralischen Ausbildung der letzte Schliff, die letzte Hand so zu sagen fehle und sah sich eifrig nach einem Meister um, der sich zu diesem Werk herbei ließe. Auf ihren Meister im Conservatorium, Herrn Michelot, konnte sie nicht zählen; denn dieser hat es sie nur zu deutlich fühlen lassen, daß er keine große Meinung von ihrer Fähigkeit hege und sich nicht sonderlich viel von ihrer Zukunft verspreche, so daß sie all ihres Bewußtseins bedurfte, um sich durch ihn nicht von dem eingeschlagenen Wege gänzlich abbringen zu lassen. Sie wandte sich an Herrn Vedel, der ihr so viel Freundlichkeit und ihrem Talent so viel Anerkennung erwiesen. Allein der Vielbeschäftigte, von Sorgen und Unannehmlichkeiten aller Art in Anspruch Genommene blieb ihr unzugänglich und ließ sogar ein Schreiben, was sie an ihn gerichtet, der viel gepriesenen französischen Galanterie ungeachtet, unbeantwortet. Flehend geht sie Herrn Provost, ersten Komiker am Theater Français, um seine geistige Unterstützung an. Doch dieser ist bis zur Unzartheit hart und nachdem er sich Einiges von ihr hat hersagen lassen, fällt er im Tone des Richters dieses geistige Todesurtheil: „Sie sind nicht für die Bühne gemacht, meine Liebe. Es ist besser Sie gehen auf die Boulevards Blumen verkaufen.“ Auch diesem Streich widersteht die kräftige Natur der Jüdin. Sie macht einen Versuch den Unterricht des Herrn Samson, des Professors am Conversatorium, zu erlangen, der Schauspieler und zugleich Theaterdichter. Nachdem ihm die Schauspielerin einige Verse rezitirt, ruft der tiefblickende Meister aus: „Gerechter Himmel, welche Wunder wollte ich wirken, wenn ich Ihr Organ hätte.“ Sie wurde seine Schülerin. Er, ein Mann von Bildung und Geschmack, in der Kunst des Mimen durch Theorie und Praxis erfahren, war der rechte Mann, dessen die unfertige Schauspielerin bedurfte. Er lehrte sie die reichen Mittel zur vollen Geltung bringen, er lehrte sie Maß halten, das Ausprägen der Einzelnheit ohne die großen Umrisse der Gebilde zu vernachlässigen, er lehrte sie nicht nur in den Sinn der Rolle, sondern jedes Wortes eingehen. Ihr rasch erforschender, treu bewahrender Geist, verbunden mit einem Körper, dem die Natur griechische Schönheit, plastische Vollendung verliehen, thaten das Weitere und so wurde sie – die Rachel. Herrn Vedel wird von seinen Gegnern Ruhe und Zeit gegönnt sich mit der von ihm geleiteten Anstalt zu beschäftigen und er fängt damit an, daß er die Verbindung der Rachel mit dem Gymnase, vermittelst Entschädigung auflöst und sie für das Theater Français mit 4000 Franken jährlich engagirt. Der hergebrachten Förmlichkeiten wie Probespielen und Antrittsrollen überhoben, ist Demoiselle Rachel bald darauf (am 12. Juni 1838) auf dem Anschlagzettel als Camille in den Horaciern von Corneille angekündigt. Die Vorstellung war wenig besucht, woran zum Theil die heiße Jahreszeit Schuld war, welche die vornehmen Leute d. h. die gewöhnlichen Theaterbesucher aus Paris in Badeorte, auf Reisen oder ihre Landwohnungen treibt, zum Theil aber die verjährte Richtung des Theaters, das sich dem Drang der Zeit und dadurch auch dem Publikum entzog. Unter den wenigen Zuhörern in dem halb leeren Saale befanden sich zwei, die der jungen Schauspielerin allein zahlreiches lärmendes, klatschendes Publikum waren. Ich meine Jüle Janin und Merle, damals kritische Autoritäten, die in dramatischen Dingen den Ton angaben. Seitdem ist Merle gestorben und Janin, der sich sehr wohl befindet, hat gänzlich sein richterliches Ansehen eingebüßt. Auch diese Unfehlbarkeit hat der Zweifel angefressen. Der Jupiter von ehemals schleudert keine Blitze mehr, die vernichten und versetzt nicht mehr unter die Sterne.

Janin und Merle erzählen Wunder von der Jüdin, die in Kaffeehäusern zur Guitarre gesungen, die nicht recht schreiben, lesen und selbst errathen gelernt und die Zauberkraft genug besitzt, die Werke Corneille’s und Racine’s aus dem Grabe heraufzubeschwören. Ganz Paris lief in’s Theater Français, um die Rachel zu sehen, zu hören und zu bewundern.

Es sind nun sechzehn Jahre seitdem verflossen und Paris, das eben so rasch ist, wenn es gilt, seine Idole zu zerstören, als zu schaffen, drängt sich heute noch athemlos in das Theater Français und überfüllt die Räume, wenn der Name der Rachel auf dem Zettel prangt. Sie hat der Anstalt, trotz der vielen Urlaubsreisen, vom Jahre 1838 bis 1852, die enorme Summe von 3,804,048 Franken eingebracht. Von der Seine bis zur Newa, von der Themse bis zum Arno hat man sie mit Gold und Lorbeeren überschüttet. Nun ist sie für die neue Welt jenseits des atlantischen Meeres für 12,000 Franken per Vorstellung, angeworben. Hierzu Lande mißt man Alles, selbst das Talent, ökonomisch nach Zahlen; die arithmetische Größe hat oberste Geltung.

„Wenn ich von Amerika zurückkehre, verlasse ich die Bühne,“ sagte Fräulein Rachel kürzlich zu Madame Aland, ihrer Collegin.

„Sagen Sie das noch nicht, was Sie schon so oft gesagt und doch niemals ausgeführt. Weder Ihr Alter, noch sonst ein Umstand veranlassen Sie, eine Thätigkeit aufzugeben, die Ihnen ein Bedürfniß geworden.“

„Das sagt meine Familie auch; allein ich weiß es sehr wohl, daß ich jeden Tag abwärts gehe.“

Der außerordentliche Erfolg der jungen Schauspielerin öffnete ihr alle Salons. Die vornehme Gesellschaft aller Parteien bemühte sich, sie in ihre Mitte zu ziehen. Als sie einmal in der Deputirtenkammer zu sehen war, richteten sich alle Blicke der Landesvertreter auf die berühmte Künstlerin und es fehlte nicht viel, so wären die wichtigen Verhandlungen in’s Stocken gerathen. Erstaunlich, wie gut und edel das jüdische Proletarierkind, das im

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