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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Pariser Bilder und Geschichten.
Mademoiselle Rachel.

Wer die berühmte Schauspielerin in ihrem eigenen Hotel Rue Trudon besucht, sie wie eine Königin von Schmeichlern, Verehrern, Bewunderern jedes Ranges, von Bewerbern um Gunst oder irgend eine Fürsprache oder Verwendung umgeben sieht, zu ihren Füßen alle Herrlichkeiten der Erde: Ruhm, Glanz und Reichthum, oder wer der gefeierten Künstlerin in der vornehmen Welt begegnet, wo sie stets mit Anmuth und Takt den Mittelpunkt der Unterhaltung bildet, der wird es kaum glauben, viel weniger errathen, aus welchem Grund und Boden diese Wunderpflanze emporgewachsen, welche Dürftigkeit ihre Amme, welcher Jammer ihr Erzieher gewesen. Sie ist eine Jüdin, der Typus ihres Stammes ist scharf in ihren Zügen ausgeprägt, die nichts weniger als schön sind, die aber schön werden durch geistige Belebung, durch den Zauber, den ihnen der Genius verleiht. Ihr dunkles Auge geht tief in die Seele hinein und zeigt Stürme ohne Besänftigung. Wer da so recht hineinblickt, dem ist es, als würde er von einem Wirbel erfaßt. Dieses Weib bezwingt und beherrscht, sie gewinnt nicht; sie fesselt, aber sie beglückt nicht.

Es war im Sommer des Jahres 1833, als Herr Etienne Choron, der berühmte Gründer des königlichen Instituts für religiöse Musik an einem der Kaffeehäuser der elyseeischen Felder vorüberzugehen im Begriff, stehen blieb, von den Tönen eines Mädchens festgehalten, das den Gästen ein Lied zur Guitarre vorsang, um dann freiwillige Spenden dafür einzusammeln. Es war viel Ausdruck in dem regellosen Gesang; es war Metall und Kraft in dieser Stimme, die niemand Andrem als der kleinen Rachel gehörte, damals ein Kind von zwölf Jahren. – Der Meister näherte sich der Sängerin, deren Anzug theils zerfetzt, theils mit ungleichartigem Stoff geflickt, ein sprechendes Aushängeschild der tiefsten Armuth war, und bot ihr seinen Unterricht und seine Schule an.

„Wie sehr würde ich mich freuen, Ihre Schülerin zu werden, mein Herr,“ antwortete das Kind in einem sehr schlechten Französisch, „doch weiß ich nicht, ob es meine Aeltern zugeben.“

„Wir wollen sehen,“ sagte der würdige Greis, erbat sich von dem Mädchen die Adresse und begab sich den andern Tag zu Herrn und Madame Felix, den Aeltern der kleinen Sängerin.

Diese wohnten mit dem Elend und mehreren Kindern zusammen in einer winzigen Wohnung, sechs Treppen hoch. Sie lebten nun zu Paris vom Handel mit alten Kleidern, den sie früher wie Zigeuner von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt wandernd getrieben hatten, und von dem, was zwei der Mädchen durch ihren Gesang auf den Straßen und in Kneipen erwarben. Herr Felix erwies sich alsogleich bereit, auf den freundlichen Antrag des Musikmeisters einzugehen, der den alttestamentarischen Namen Rachel in Elisabeth verwandelte, weil ihm jener dem Institut für heilige Musik wenig entsprechend vorkam. Das war der Moment, in welchem das Loos der kleinen Jüdin eine Wendung zum Bessern nahm; bis dahin jedoch, welchen Entwürdigungen war sie preisgegeben; was hat ihr Auge zu sehen, ihr Ohr zu hören bekommen! Man muß Paris und seine Tiefen, Herrn Felix und seine Moral kennen, man muß wissen, wie ein ununterbrochener Verkehr mit dem Gemeinen, mit dem Verwerflichen auf Glauben, Urtheil und Meinung eines Kindes wirkt, um die ganze Gesunkenheit des armen Geschöpfes zur Zeit, da sich Herr Choron dessen annahm, zu ermessen, um manches der Künstlerin von heute, der Emporgerichteten, nachzusehen, was sie sicherlich aus dieser Zeit des Verfalles mitgebracht. Wer in solchem Schlamm, wie die Rachel getaucht, und sich doch emporgerafft, wem die Kinderjahre solche Blüthen gebracht, wie ihr, der mag, wenn auch nicht fleckenlos gegen jede menschliche Anklage sicher gestellt sein. Denn es muß ihm jeder Vorzug hundertfach angerechnet werden, um seine Fehler und Schwächen aufzuwiegen.

Als Herr Etienne Choron der kleinen Jüdin seinen Schutz angedeihen ließ, konnte sie mit großer Schwierigkeit lesen und mit noch größerer höchst mangelhaft schreiben, eine Unzulänglichkeit, welche selbst von der Künstlerin und Weltdame noch heute nicht gänzlich überwunden ist. Mademoiselle Rachel liest und schreibt nicht mit jener Geläufigkeit, die eine frühzeitige Uebung verleiht.

„Sie haben die französische Sprache gerettet,“ sagte der berühmten Schauspielerin der galante Graf Molé, der sich mit ihr in einem Salon zusammenfand. Sie verneigte sich ehrerbietig für die Höflichkeit und erwiederte:

„Das ist ein besonderes Glück, denn ich habe sie nie gelernt.“

Nach ungefähr einem Monat erkannte Herr Choron, daß die Stimme seines Schützlings mehr zur Deklamation als zum Gesang geeignet sei, und empfahl sie dem Herrn Pagnon Saint-Aulaire, der Privatstunden in der recitirenden Kunst ertheilte. Dieser nahm sie auf und verwendete alle Sorgfalt auf ihre Ausbildung für die Tragödie. Vier Jahre lang arbeitete der väterliche Lehrer an Auffassung, Verständniß und Ausdruck seiner Schülerin und legte den Grund zu künftiger Vorzüglichkeit und Auszeichnung. Große Verstandesfähigkeit, die herrlichsten physischen Mittel, Ausdauer, Geduld und Unermüdlichkeit des Zöglings erfreuten und ermunterten den Meister. Die Rollen der Hermione, der Iphigenie und der Maria Stuart wurden der jungen Rachel von Herrn Saint-Aulaire bis auf die Betonung jedes einzelnen Wortes einstudirt. Außer der Unkenntniß der angehenden Schauspielerin hatte ihr Meister auch noch ihren Hang zum komischen Fache zu bekämpfen, den sie, ihre Natur und Fähigkeit verkennend, geltend zu machen suchte. Auch jetzt noch hat die berühmte Rachel die Sucht, Lachen zu erregen, und sie läßt gewiß keine Gelegenheit vorbeigehen, auf einem zweiten Theater oder sonst wo eine heitere Rolle zu spielen, ob sie gleich auf keinen erheblichen Erfolg zählen darf. Es ist eben in der menschlichen Natur, das am Meisten zu wollen, was man am Wenigsten kann. Da die achtzehnjährige Schauspielerin zum Auftreten auf eine Bühne hinlänglich vorbereitet war, besuchte sie Herrn Vedel, den Cassier des Theater Français, dessen Einfluß auf die innern Angelegenheiten der Staatsanstalt bekannt war, und lud ihn zu einer Vorstellung, bei welcher sie mitwirkte, in das kleine Theater Molière, Rue St. Martin, das Herr St.-Aulaire zur Uebung für seine Zöglinge gemiethet hatte.

„Welche Rolle werden Sie spielen, liebes Kind?“ frug Herr Vedel.

„Die Sobrette im „verheiratheten Philosophen.“

„Sonst nichts?“

„Nein. Anfangen werde ich mit der Hermione; doch diese verstehe ich nicht recht zu spielen. Belieben Sie nur zum zweiten Stück zu kommen.“

Herr Vedel verstand sich zu gut auf diese Dinge, um nicht an dem Organ, an dem ganzen Wesen des jungen Mädchens das Gegentheil von dem was sie sagte zu erkennen. Er fand sich am Anfang der Vorstellung ein. Nach dem ersten Akt, der ihn staunen gemacht, nahm er einen Wagen und jagte in die Rue Richelieu, um Herr Touselin, Direktor des Theater Français abzuholen.

Dieser theilte die Bewunderung des Cassier für das Talent der jungen Schauspielerin, die er im dritten Akt von Andromache sah, wie sie eine Kraft des Ausdrucks und der Rede entfaltete, deren er sich später oft erinnerte. Er ließ sich die begabte Schülerin vorstellen.

„Es liegt Ihnen daran, in das Conservatorium zu treten?“ frug er das Mädchen.

„O, mein Herr; es ist mein heißester Wunsch.“

„Das soll geschehen. Und ich nehme es über mich, Ihnen außerdem eine Unterstützung von 600 Franken jährlich zu verschaffen. Doch wenn Sie noch eine einzige Sobrette zu spielen sich vermessen, dann haben Sie es mit dem Minister und mit mir zu thun.“

Es war am 27. Oktober 1836, als Fräulein Elisabeth Rachel Felix zu den Vorlesungen des Herrn Michelot im Conservatorium zugelassen wurde.

Herr Vedel folgte Herrn Touselin in die Direktion des berühmten Theaters; allein statt daß dieses ein Vortheil für die Schülerin des Conservatoriums hätte werden sollen, gereichte es ihr vielmehr zum Nachtheil; denn die leitenden Gesellschaftsglieder der klassischen Anstalt machten Herrn Vedel durch ihre Angriffe und Intriguen in seiner neuen Stellung so viel zu schaffen, daß ihm nicht Athem genug übrig blieb, sich mit einem wirklichen Interesse der Kunst zu beschäftigen und der kleinen Rachel einige

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