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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

auf ein Feld niedergemähter Russen, unter denen noch Unzählige die schrecklichsten Lebenszeichen von sich gaben – zwei Tage nach der Schlacht. Die Todten schienen hier trotz ihrer verzerrten Gesichter, ihrer zerschossenen Leiber und abgerissenen Glieder die einzigen Glücklichen. Einer derselben hatte zwischen den Zähnen, die auf einer Seite durch die abgeschossene Backe grinsten, ein grobes Stück schwarzes Brot und in einem leinenen Beutel harte, zerriebene Brocken. Um drei kleine, jetzt kalte und nasse Feldöfen lagen die Todten und Verwundeten am Dichtesten. Englische Soldaten eilten rasch durch und über die Leichen hin, um die noch Lebenden auf Bahren zu laden und zu entfernen: ein edeler Zug, wenn man bedenkt, daß sie unter ihren eigenen niedergemähten Brüdern noch lange nicht mit der Sonderung der Lebendigen von den Todten zu Ende waren. Den Bahren für die Lebendigen folgten die Sammler der Todten, welche, wie sie waren und lagen, ergriffen und in ein einziges Grab gestürzt wurden, das in ihrer Mitte so tief und weit gegraben worden war, daß es nicht weniger als 1230 Leichen aufnahm. Wie viel nahmen die andern Russengräber auf? Wie viel die der Franzosen? Die der Türken? Die der Engländer? Viel, sehr viel, Tausende, aber lange nicht so viel, als die Cholera, im Gefolge der zögernden Diplomatie, niedergewürgt hatte.

Die englischen Gefallenen wurden ebenfalls in große Riesengräber gepackt, nur daß sie etwas regelmäßiger geschichtet wurden. Unser Augenzeuge beschreibt die Scene, wie die Lebenden massenweise mit Bahren umhereilen und unter den durcheinander verrenkten Todten und Verwundeten umhersuchen, wer für die Lazarethschiffe, und wer für das Grab passe, wie sie bald entstellten Leichnamen, bald wimmernden Sterbenden Decken und Tücher von dem Körper ziehen, und durch Fühlen und Rütteln probiren, ob er reif sei für die Riesengruft. Im letztern Falle wird er rasch ergriffen und nach dem unersättlichen Schlunde getragen. Hier wird er wie ein Stück Balken hinuntergelassen, von den Ordnern unten ergriffen und so grade und eng als möglich auf und an die Andern geschichtet, damit er so wenig Platz als möglich einnehme. Hier und da hört man einen Schmerzensruf. Ein Lebender erkennt in dem Todten einen Freund, und schickt ihm einen kurzen Abschiedsgruß in das Massengrab hinab, wo er bald unter den Schichten neuer Leichen, die von allen Seiten herbeiströmen, verschwindet. „Glücklich seid ihr!“ hört man öfter ausrufen, wenn das Jammergeschrei der Verwundeten, die um den Tod oder um Wasser flehen, bis an den Rand des Grabes heranschrillt. Niemand giebt euch den Tod! Ihr müßt liegen bleiben und ihn abwarten. Niemand giebt euch Wasser, die Qual des Durstes, die noch viel entsetzlicher brennt, als eure Wunden, zu mildern. Es fehlt an Wasser. Es fehlt an Lumpen und Charpie und Aerzten und Medizin, die sich anderswo, nur nicht hier, hundertcentnerweise in irgend einem Vorrathskeller befindet; so macht, daß der Tod eure Leiden beendigt, denn die Hülfe, die euch erwartet, ist viel schrecklicher. Im besten Falle werdet ihr auf entsetzliche, stauchende Karren gepackt, drei englische Meilen weit über Stock und Stein nach dem Meere auf’s Schiff gebracht, wo ihr zusammengeschichtet, wie Todte, mit Maden in euren Wunden, endlich in der großen türkischen Kaserne von Scutari ankommt und die herrlichste Labung finden werdet, vorausgesetzt, daß ihr warten könnt, bis die drei Wochen nach der Schlacht in England begonnene Bettelei um Lumpen und Geld abgeschlossen und der Ertrag 1000 Meilen weit „mit Gelegenheit“ angekommen sein wird.

Unser Augenzeuge sagt, daß die Franzosen auf bequemen, bedeckten, in Federn hängenden Wagen, für je zwölf Mann bettenartig eingerichtet, sofort an die wohleingerichteten Orte weiterer Verpflegung entfernt worden seien und bei ihnen überhaupt Alles musterhaft genannt werden müsse im Vergleich zu der englischen Confusion und Verwirrung, zu dem Mangel an allen Vorkehrungen für Verwundete und Kranke. Die große Krim-Expedition und die Schlacht war den englischen Regierern plötzlich octroyirt worden. Nach ihrer Weisheit durften Russen und Engländer nie in feindliche Berührung kommen. Ihre schwere, auferlegte Kriegssteuer sollte friedlichen Zwecken dienen, so daß die besteuerten, patriotischen Engländer erst drei Wochen nach der Schlacht 1000 Meilen weit anfingen, sich unter Leitung der Times-Leitartikel patriotisch und leidenschaftlich mitleidig der Verwundeten privatim anzunehmen. „Hätte man“, fährt unser Augenzeuge fort, „ein paar Tausend Mann von der Marine, die vor Langerweile und Cholera umkamen, gelandet, wie es mehrmals vorgeschlagen worden war, sie hätten freudig Alles gethan, was uns oblag gegen die Tausende von verwundeten und todten Freunden und Feinden. Wir wären dann auch im Stande gewesen, unsern Sieg zu verfolgen und so den Frieden zu beschleunigen. Jetzt blieb unser Sieg zunächst ohne Erfolg, da wir uns in Angst und Arbeit um Todte und Lebende erschöpfen mußten, ohne letzteren in Menschlichkeit und Mitleid gerecht werden zu können.

„Nach langer Weigerung und mit dem größten Widerstreben gab endlich bei Balaklava Admiral Dundas, der erste Commandeur unserer Flotte und der Erste, wie es scheint, in Verachtung von Lorbeeren, so daß er ein intimer Freund der Aberdeen’s bleiben wird, 1000 Marine-Mannschaften zum Landdienste her. Man sah es ihrer begeisterten Riesenkraft, womit sie die schwersten Kanonen auf den Berg hinauf zogen, an, daß sie nach langem, schmachvollem Müßiggange das Glück, jetzt etwas thun zu dürfen, zu würdigen und zu genießen verstanden.“

„Sehr früh verließen wir am 23. September die blutigtriefenden Höhen der Alma. Schon in der Dämmerung fingen die Franzosen an, auf eine effektvolle Weise von den Höhen, die sie genommen hatten, Abschied zu nehmen. Alle Musiker und Tambours waren versammelt und bliesen und schmetterten und wirbelten und schossen Salven dazu so wild und schrill, so jauchzend und leidenschaftlich, daß wir unter unsern Zelten rasch aufsprangen, als gäb’ es eine neue Schlacht zu gewinnen. Auch die Soldaten außen, die um die matten Wachtfeuer herum in der Nacht erstarrt waren, wurden sofort wieder gelenkig und bald marschfertig. Ich werde unter allen den massenhaften Erinnerungen von unbeschreiblichen Gräuelscenen nicht die einfache Thatsache vergessen, wie ein paar unserer Leute einen sterbenden Russen, der zum Feuer heranzukriechen suchte, sanft aufhoben und dicht herantrugen und er seine brechenden Augen aufschlug und einen tiefen, schmerzlichen Dank lächelte. Zu weiterer Fürsorge hatten wir weder Zeit noch Mittel. Die Nebel der Nacht krochen langsam über die Hügel und enthüllten uns neue Scenen des Schreckens und


    Bildung ist Ehrlichkeit und ehrenhafte That mit Verstand, Muth, Ueberlegung, Berechnung und Menschlichkeit. Der jetzige Krieg mit seiner Menschenvertilgung im Großen, dabei am Wenigsten durch feiges Geschoß, sondern durch Fieber des Müssigganges, Cholera und beispiellos barbarische Vernachlässigung der Kranken und Verwundeten, ist eine Folge der Heuchelei, der Lüge und Feigheit, des Zögernn, unsinnigen Vertrauens und unsinnigen Mißtrauens, die faule, aufgeplatzte Frucht eines über Europa hin künstlich verzweigten Giftbaumes, der in den Jahren nach den „Freiheitskriegen,“ besonders 1815, gepflanzt ward. Alle Contrahenten und Mitschuldige dieses Krieges halfen graben und pflanzen und pflegten den Baum und oculirten ihm mit diplomatischer Weisheit noch besondere Keime ein und freuten sich, wenn sie trieben und gediehen. Der Hauptkunstgärtner an dieser Pflanze war die englische Politik (die Niemand mit dem englischen Volke und den tapfern, unglücklichen Opfern dieser jetzigen Metzgerarbeit verwechseln wird), war diese Aberdeen’sche Richtung, die jetzt altersschwach, pfiffig und verlegen über „das freieste, gebildetste, größte, reichste Volk der Erde“ regiert und sich gewissenszitternd und verwirrt gerade in den Krieg tiefer hineingetrieben sieht, welchen man durch den Baum „des europäischen Gleichgewichts“ und dessen diplomatische Pflege durch vierzig Friedensjahre hindurch abzuhalten und unmöglich zu machen wähnte. Unwillig und unwillkürlich, vertrauend auf schwebende Friedensunterhandlungen und ihnen mißtrauend, war die Diplomatie mit ihren Soldaten endlich bis Varna fortgestoßen worden. Der „heilige“ Krieg des „Rechts“ gegen „Unrecht,“ der „westlichen Civilisation“ gegen „asiatische Barbarei,“ die „Begeisterung“ für den Frieden und die heiligsten Interessen der Bildung lag hier gefesselt im Schmutze und Müßiggange. Und der allmächtige Adler, der mit unsichtbaren Schwingen fortwährend über die Menschheit hinkreist und sich auf jede Stelle gierig niederstürzt, wo sich Aas versammelt – die Cholera – raffte hier die Soldaten tausendweise hinweg, ohne daß sie sich wehren durften. Aber die Cholera wiegelte die auf, welche sie nicht niederwürgen konnte. Die Soldaten wurden rebellisch, die Disciplin begann sich zu lösen. Man schrie lauter und lauter: Lasset uns als Vertheidiger der Civilisation, als brave Soldaten, lieber im Kampfe sterben. Wir wollen nicht als müßige, gebundene Opfer der Diplomatie und Cholera hier wehrlos tausendweise verenden. So übernahm die Cholera das Ober-Commando über die Vertheidiger westlicher Civilisation und führte sie auf die Halbinsel Krim hinüber. „Sebastopol“ war das Zauberwort, welches den Geist der Rebellen bannte und vertrieb. Die Expedition, die Landung, das Vordringen bis zur Alma, die entsetzliche, wüthende Schlacht hier sind für die Herren der Kriegswissenschaften großartige Erscheinungen. Wir unsererseits kommen zwei Tage nach der Schlacht, am 22. September Morgens, zur Stelle und sehen uns hier vermittelst eines Augenzeugen die große Niederlage unserer ganzen europäischen Civilisation als Menschen an.

    Die Redaktion. 

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_539.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)