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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 43. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Kopf und Herz.
(Fortsetzung.)

Nach der Entfernung des wackern Mannes fühlte sich Marianne einsam und verlassen auf der Welt, ihr war, als ob mit dem einzigen Freunde des Verstorbenen ihre letzte Stütze entschwunden sei. Der Oberst hatte wie ein Einsiedler gelebt, außer einigen Geschäftsfreunden war Niemand in der Residenz, der sich eines vertrauten Umganges mit ihm rühmen konnte. So kam es, daß sein Tod nur von den ihm nahe stehenden Personen und den zu dem Schlosse gehörenden Landleuten betrauert ward. Der trockene Gerichtshalter versah wie immer seine Amtsgeschäfte, und fragte ihn Jemand, wer wohl die künftige Herrin sein werde, so zuckte er lächelnd mit den Achseln, ohne zu antworten. Seit dem Begräbnißtage sah man Franziska nicht mehr auf Adersheim. Marianne, obgleich tief gebeugt von Schmerz, leitete gewissenhaft die innern wirthschaftlichen Angelegenheiten. Aber sie fand keine Beruhigung in der Erfüllung ihrer Pflicht; das sonst so heimische Haus erschien ihr jetzt wie eine Zufluchtsstätte, die man ihr nur gezwungen bewilligt hatte, und eine Art Schaamgefühl trieb ihr das Blut in die Wangen, wenn sie daran dachte, daß sie von der Großmuth Franziska’s abhängig geworden sei. In dem Betragen der Dienstleute glaubte sie bald eine scheue Ehrfurcht zu bemerken, bald ein Nachkommen ihrer Anordnungen aus Mitleid. Der alte Kammerdiener schlich traurig und gebückt durch die weiten Räume des Hauses, es schien, als ob der Tod seines Herrn ihm alle Lebenslust geraubt, als ob der schwere Schlag ihn bis zum Sterben erschüttert hätte. Es gab keinen Menschen, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, und selbst Philipp, ihr Jugendgespiele, den nun keine Geschäfte mehr nach Adersheim führten, blieb aus.

Vier Tage waren seit dem Begräbnisse verflossen, als sie, von einem unerklärlichen Dränge getrieben, Hut und Mantel ergriff, und das Schloß verließ. Sie schlug den Fußweg über die Wiese ein, der zu der kleinen Meierei des alten Eckhard führte. Der Landmann war nicht nur ihr Pathe, er war auch weitläufig mit ihr verwandt. Der trübe Herbsttag hatte einen Nebelschleier über der Landschaft ausgebreitet, die Luft war still und kalt, und von den Bäumen sank geräuschlos das letzte braune Laub herab. Gedankenvoll betrat sie ein Wäldchen, das sie noch von dem Ziele ihrer Wanderung trennte. Da erklangen plötzlich Schritte in kurzer Entfernung, und nach einer Minute trat ihr Philipp in der Krümmung des Weges entgegen. Als er Mariannen erblickte, ward sein gebräuntes Gesicht purpurroth, wie bestürzt zog er seine verschossene Tuchmütze, und trat ehrerbietig mit entblößtem Haupte in das Gras, um der jungen Dame den schmalen Fußpfad frei zu machen.

Philipp war ein junger Mann von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Sein Gesicht war etwas mager und bleich, ohne gerade krankhaft auszusehen. Das Haupt bedeckten blonde, natürlich gekräuselte Haare. Die hohe Stirn und das scharfblickende dunkele Auge unter starken Brauen verriethen einen festen, entschlossenen Charakter. Sein Wuchs war schlank und kräftig, und alle seine Bewegungen verriethen eine männliche Energie, wenn sie auch nicht frei waren von den Unbeholfenheiten des Landmanns.

„Guten Tag, Philipp!“ flüsterte sie, indem sie stehen blieb, und ihm die Hand reichte.

Er wagte es kaum, mit seiner von der Arbeit abgehärteten Hand die zarten Handschuhe des jungen Mädchens zu berühren. Aber mit bewegter Stimme erwiederte er den Gruß.

„Wohin gehst Du, Philipp?“ fragte freundlich Marianne, die den Grund seiner Befangenheit errieth.

„Nach dem Kirchhofe. Ich will nach den Blumen auf dem Grabe des Herrn Oberst sehen. In der verflossenen Nacht haben wir den ersten Frost gehabt – sie werden wohl verwelkt sein.“

Diese Aufmerksamkeit, schlicht und einfach ausgesprochen, rührte Mariannen tief; sie mußte weinen. Als sie das weiße Batisttuch von dem Gesichte nahm, sah sie auch in Philipp’s Augen Thränen.

„Ich werde Dich begleiten,“ sagte sie leise.

„Du willst mit mir umkehren?“ fragte Philipp erstaunt, der kaum glauben mochte, daß er fähig sei, auch nur so viel Einfluß auf die vornehme Dame auszuüben, daß sie von dem einmal eingeschlagenen Wege abwich. Er betrachtete dies als eine große Herablassung.

Schweigend nickte sie mit dem Haupte. Sie trat den Rückweg an. Philipp folgte. Als der Pfad breiter wurde, ging sie neben ihrem Begleiter her.

„Ich wollte zu Euch gehen, Philipp, um zu fragen, warum keiner von Euch auf das Schloß kommt. Habt Ihr mich denn ganz vergessen?“

„Vergessen?“ fragte der junge Mann. „Ich wäre gern alle Tage gekommen, wenn ich nur gewußt hätte, daß ich nicht störe. Vater meint, ein Trauerhaus dürfe man nicht so oft besuchen.“

„Ach, Philipp, Deine Gegenwart hätte meinen Schmerz gelindert. Seit dem Tode meines Wohlthäters ist es in dem Schlosse ganz anders geworden, die Leute wissen nicht, wofür sie mich halten sollen, und mir fehlt der Muth, gegen irgend einen mein Herz auszuschütten. Ach,“ fügte sie seufzend hinzu, „wie hat sich Alles geändert! Man weiß, daß ich nichts weiter bin, als eine arme Waise. Solltest Du noch nicht gehört haben, daß Franziska von Adersheim die künftige Herrin des Schlosses ist?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_505.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2016)