Seite:Die Gartenlaube (1854) 496.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„Die kurze Zeit meiner Anwesenheit auf Adersheim,“ begann er mild, „hat genügt, um mich einen Blick in die hier obwaltenden Verhältnisse werfen zu lassen. Nach den Mittheilungen meines Freundes finde ich sie erklärlich, selbst natürlich. Sie stehen jetzt wiederum allein wie in jener Zeit, als Ihnen der Tod in einer Nacht Vater und Mutter raubte. Für das älternlose Kind war bald ein Asyl gefunden; für die Jungfrau, die eine Stellung im Leben einzunehmen berechtigt ist, wird es ungleich schwerer sein.“

Marianne schlug ihre thränenfeuchten Augen in frommer Ergebung empor.

„Mein Herr,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „ich bin als eine arme Waise in das Haus meines Wohlthäters gekommen; wenn ich es arm wieder verlasse, so finde ich kein Unrecht darin. Ich fühle beim Scheiden keinen andern Schmerz als den, die Räume verlassen zu müssen, in denen ich unter der Obhut meines zweiten Vaters so glücklich war. Meine theuersten Erinnerungen knüpfen sich an Adersheim, und ist der erste Schmerz überwunden, so fürchte ich nicht, dem Ernste des Lebens zu erliegen. Aber ich gehe nicht so leer aus, wie man wohl glauben möchte – hat mich die Liebe des Herrn Oberst nicht mit Schätzen ausgerüstet, die mir Niemand rauben kann? Er hat mich zu dem heranbilden lassen, was ich bin, ich besitze nützliche Kenntnisse, die ich verwerthen kann. Hieße es nicht seine gute Absicht verkennen, wenn ich auf mehr Anspruch machen wollte? Würde ich nicht die größte Undankbarkeit an den Tag legen?“

„Sie verkennen in der That die Absicht meines Freundes!“ rief Eberhard, verwundert über die Zartheit Marianne’s.

„Wie?“

„Der Oberst hat nie daran gedacht, seine Sorge für Sie nur auf Ihre Ausbildung beschränken zu wollen.“

„Ich erinnere mich nicht, daß er je darüber gesprochen.“

„Zu Ihnen; aber er hat mir seine Absicht geäußert. Ihre Erziehung berechtigt Sie zu dem Leben der höhern Gesellschaft, und er hielt es für Pflicht, Ihnen die Mittel zu diesem Leben zu liefern. Der plötzliche Tod hinderte ihn, sie zu erfüllen. Er hat kein Testament hinterlassen. Das ganze große Vermögen fällt der Tochter seines Bruders anheim – Ihrer Feindin. Läßt sich einerseits in dem Verzögern, seinen letzten Willen festzusetzen, auch die Gutherzigkeit des Verstorbenen erkennen, die stets noch auf eine Besserung der verblendeten Verwandtin zählte, so muß man sich, bei seiner unbegrenzten Liebe zu Ihnen, über die Sorglosigkeit andererseits wundern, mit der er Ihr materielles Wohl unberücksichtigt gelassen hat. Besitzen Sie keine Schenkungsakte?“

Marianne schüttelte schweigend das schöne Haupt.

„Auch ist Ihnen keine förmliche Adoption bekannt?“

Dasselbe Zeichen.

„Dann, Marianne, sind sie der Willkür Franziska’s ausgesetzt. Sie ist die rechtmäßige Erbin, und hat über das Vermögen des Onkels zu verfügen. Das war aber nicht die Intention des Verstorbenen. Er schilderte mir Franziska als eine Verschwenderin und Spielerin. Während Sie vielleicht ein höchst bescheidenes Leben führen, das Sie bei Ihrer Bildung doppelt drückend fühlen müssen, vergeudet jene Dame in übermüthiger Siegeslust das Vermögen, das Ihnen der Verblichene zugedacht hat. O, ich habe es wohl bemerkt, daß ihm das Scheiden aus dieser Welt schwer wurde, weil er Ihr Glück nicht gesichert wußte. Marianne, wir müssen uns verbinden, die Absicht des Todten zu verwirklichen. Zwar weiß ich in diesem Augenblicke nicht, wie ich den ersten Angriff gegen unsere Feindin formiren soll; aber ich wache über Sie und schütze Sie. Der Gerichtshalter ist zum Curator der Erbschaftsmasse bestellt; vor der Hand bleibt also Alles wie es ist, und Sie werden in Ihren Verhältnissen bleiben, um zu beobachten und mir Bericht zu erstatten. Hier ist meine Adresse. Sobald ich kann, bin ich wieder hier.“

Gegen Abend reiste Eberhard von Detmar ab.

(Fortsetzung folgt.)




Das wissenschaftliche Parlament
in der St. George-Halle zu Liverpool.

Die große wissenschaftliche Association in England, eine Vereinigung aller praktischen Zweige der Wissenschaften, hat sich dies Jahr zu ihren parlamentarischen Geschäften und Feierlichkeiten in einer der glänzendsten und großartigsten Kulturtempel, der neuen St. George-Halle in Liverpool versammelt und, während Krethi und Plethi sich die Köpfe symbolisch oder wirklich auf Kriegsschauplätzen im Großen und in Masse zerbrechen, sich gegenseitig mitgetheilt und zum Gemeingut gemacht, was der stille, ernste Fleiß des Forschers oder das Genie und die Ausdauer des Technikers, Erfinders und Entdeckers in den verschiedenen Welttheilen der Erde und des Wissens geschaffen und gewonnen haben. Solch ein Parlament macht nicht nur der „Nation“, sondern unserer Zeit überhaupt Ehre und ist zugleich die würdigste Verurtheilung, die unser Jahrhundert über die Barbareien ausspricht, welche Staatsweisheit und diplomatische Finessen unter uns heraufbeschworen haben. Es ist dabei der glänzendste Beweis, daß sich Wissenschaft and Kunst, Civilisation und Humanität bereits stark genug fühlen, um sich selbst vor einem „allgemeinen Kriege“ nicht mehr scheu zu verstecken. Wir können hier natürlich nicht auf die reichen und vielseitigen Vorträge und Mittheilungen, welche sich hier die Freiheitsmänner der Wissenschaft machten, eingehen und begnügen uns zunächst mit einer kurzen Schilderung des Tempels, in welchem dieses Parlament tagte.

Er ist vor Allem ein Beweis, daß die ungeheure Welthandelsstadt, in welcher die größten Hauptadern des Weltverkehrs sich wie in einem Herzen vereinigen, nicht mehr Geld macht, um eben reich zu sein, sondern auch um dem Schönen, der Kunst und Aesthetik zu huldigen. Dies bewies schon das große Musikfest, mit welchem die Halle eingeweiht ward. Die St. George-Halle entstand in Liverpool in zwei Tagen. Wenigstens waren die Tausende von Pfunden, die dazu gehörten, während dieser Zeit alle aus Privatmitteln zusammengebracht. Das Gebäude gilt als das schönste Englands. Es ist im griechischen Style gehalten. Besonders edel und grandios ist das Innere der großen Central-Halle mit bequemen Sitzen für 4000 Personen. Die Hauptmerkwürdigkeit darin ist die große Orgel, deren Bälge durch eine Dampfmaschine getrieben werden. Sie kostet 56,000 Thaler, wofür man in England 100 Häuser bauen könnte oder ein Schiff von 1500 Tonnen Gehalt. Ihre 8000 Pfeifen werden durch vier Reihen von Tasten gespielt und durch 108 „Register“ modulirt, durch welche man alle möglichen Tonfärbungen (unter welchen ganz neue) und Stärken hervorbringen kann. Die Größe der Pfeifen dehnt sich von drei Achtel Zoll bis 32 Fuß aus. Die Dampfmaschine füllt zunächst zwei Hauptbälge, aus denen die Luft in 12 andere (die Reservoirs) und von da vermittelst neuer mechanischer Einrichtungen so in die Pfeifen getrieben wird, daß die durch Register bestimmte Färbung und Stärke ganz gleichmäßig wirkt und sogenanntes Schnarchen durch Nebenluft u. s. w. unmöglich wird. Genial, neu und ungemein praktisch sind Construktion und Stellung der Register und des Pedals. Sie sind so gestellt, daß der Spieler auf die leichteste Weise den ungeheuern Reichthum des Instruments beherrschen kann. Techniker und Orgelspieler würden hier eine große Masse Studien machen können. In dem technischen Bericht über diese grandiose Musikdampfmaschine werden nicht weniger als fünf ganz wesentliche, neue, patentirte Erfindungen und Verbesserungen angeführt, die wir aus Mangel an technischer Kenntniß nicht weiter schildern können.

Wir kehren zu dem wissenschaftlichen Parlamente zurück, um aus dessen Mitgliedern den würdigsten und größten Mann der Wissenschaft hervorzuheben: Professor Owen, den Geologen. Die Geologie, diese junge, gigantische Wissenschaft, die, denuncirt von Ignoranten und Heuchlern, verwünscht von Autoritätsgläubigen und nur allmälig angenommen und noch langsamer verstanden und gewürdigt von den offenen Köpfen studirender und studirter Jugend, wie ein wahrer Hercules Hydras köpft, Augiasställe reinigt und wissenschaftlichen Autoritätslöwen das Fell abzieht, hat in Professor Owen einen der eifrigsten, frömmsten und mächtigsten Diener und Priester gefunden. Fromm ist er wie wohl selten

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_496.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2018)