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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Franziska starrte nach dem Thore, unter dessen hoher Wölbung das Gerassel des Wagens jetzt laut ertönte. Gottfried, von einigen Knechten umringt, stand in dem Hofe.

„Schickt nach einem Arzte!“ rief der Kutscher, in dessen Gesicht sich Angst und Schrecken malte.

In dem offenen Jagdwagen saß Eberhard von Detmar. An seiner Brust lag das mit einem blutigen Tuche umwundene Haupt des Obersten, das er vorsichtig mit beiden Armen umschlungen hielt. An der Spitze der Dienerschaft flog Marianne herbei. Mit einem lauten Schreckensschrei gewahrte sie die Gruppe im Wagen. Eberhard winkte, daß man sich ruhig verhalten möge, dann ließ er sanft den regungslosen Freund in die Arme der Diener gleiten, die ihn vorsichtig in den Saal trugen und auf die Polster des Sopha’s legten. Marianne sank laut schluchzend zu Boden und bedeckte die herabhängende Hand ihres Wohlthäters und Vaters mit Thränen und Küssen. Der Kammerdiener eilte mit Wasser herbei und durchnäßte das Tuch, das den durch eine volle Ladung zerschossenen Kopf einhüllte.

„Wie ist das zugegangen?“ fragte er schluchzend, als Eberhard mit dem Gerichts-Actuar des Schlosses eintrat.

„Bei dem hastigen Aussteigen aus dem Wagen hat sich sein eigenes Gewehr entladen.“ „Ich bitte, gnädiger Herr, bestätigen Sie diese Angabe!“ sagte der Actuar.

Der Verwundete machte eine zustimmende Bewegung mit der Hand.

„Ertheilen Sie mir Ihre Befehle!“ fuhr der Actuar fort, der sich an einen Tisch gesetzt hatte und zu schreiben begann.

Unterstützt von Marianne’s Armen hob sich der Oberst mit krampfhafter Anstrengung empor. Ein dumpfes Röcheln vereitelte sein Bemühen zu reden – wimmernd sank er zurück. Noch einen Augenblick und der wackere Mann hatte aufgehört zu leben. Der Körper lag mit der Schwere des Todes in dem kostbaren Polster, was von dem aus der Kopfwunde hervorquellenden Blute geröthet ward.

„Mein Freund, mein armer Freund!“ rief Eberhard. „Er ist todt!“ fügte er erschüttert hinzu.

Ein lauter Schreckensschrei durchtönte den von der Dienerschaft angefüllten Saal. Dann hörte man nichts als das stille Weinen der Knechte und Mägde, die am Boden knieten und für das Seelenheil ihres geliebten Herrn ein Gebet zum Himmel sandten.

Marianne war in Ohnmacht gesunken. Als sie unter des alten Kammerdieners Beistande wieder zu sich kam, warf sie sich laut schluchzend über die geliebte Leiche. Man mußte sie gewaltsam entfernen und auf ihr Zimmer führen.

Franziska, die ein solches Ereigniß für unmöglich gehalten hatte, stand nachdenkend in einer Fenstervertiefung. Sie wußte nicht, welchem der aufkeimenden Gefühle sie sich hingeben sollte. Der erste Schreck hatte sie mit Bestürzung erfüllt, dann aber, als sie ihre Feindin unter allgemeiner Theilnahme aus dem Saale führen sah, erwachte die Furcht, daß ein vorhandenes Testament Mariannen zur Universalerbin erklärte. Auf diese Weise wäre sie besiegt, ohne daß ein Kampf stattgefunden hätte. Dieser Gedanke erregte in ihr eine Bitterkeit, daß sie sich theilnahmlos abwandte. Sie fühlte ein heftiges Brennen in dem Gesichte und ein Sausen vor den Ohren. Ihre Niederlage schien ihr so gewiß zu sein, daß sie sich entschloß, ohne Aufsehen den Rückweg anzutreten. Hier verließ sie die siegreiche Marianne und dort begegnete sie dem treulosen Walther, der sich nun ohne Zwang, wie sie wähnte, der reichen Erbin nähern würde. Die stolze Dame fühlte sich völlig niedergeschmettert.

„Wie aber,“ fragte sie sich plötzlich, „wenn kein Testament vorhanden wäre? Der Oberst hat sicher an ein so rasches Ende nicht gedacht. Dann bin ich, die einzige Adersheim, die Erbin, denn jene ist ein völlig fremdes Mädchen und hat keine Ansprüche. Dann bin ich hier Herrin, und Alles liegt zu meinen Füßen. Ich kann mich nicht entfernen, ohne über diesen Punkt Gewißheit zu erhalten.“

Von einer qualvollen Unruhe gefoltert, blieb sie in dem Saale. Der Arzt erschien, den der Wagen geholt hatte. Er untersuchte den Obersten, und constatirte seinen Tod. Der Schuß hatte das Gehirn verletzt. Man bedeckte nun die Leiche mit einem großen weißen Tuche und alle verließen den Saal, der geschlossen ward. Still gingen die Domestiken und Knechte ihren Beschäftigungen nach. Auf der sonst so lebendigen Besitzung herrschte eine tiefe Trauer. Während Eberhard von Detmar Marianne zu trösten suchte, folgte Franziska dem Actuar in die Gerichtsstube, die sich in einem Seitengebäude des Schlosses befand. Der unter Acten ergraute Rechtsmann empfing die Dame mit einem devoten Lächeln. Er kannte die Tochter des Bruders seines verstorbenen Gerichtsherrn und wußte um alle in der Familie obwaltenden Verhältnisse.

„Mein Herr,“ begann sie mit schwankender Stimme, „Sie werden es sicher nicht als Theilnahmlosigkeit an dem erschütternden Ereignisse deuten, wenn ich mir jetzt schon von dem Stande der Dinge in meiner Familie Kenntniß zu verschaffen suche. Sie kennen ohne Zweifel den unglückseligen Zwiespalt – –“

„Ganz recht, gnädiges Fräulein, ich kenne ihn!“ unterbrach sie der dienstwillige Actuar. „Nach meiner unmaßgeblichen Meinung erfüllen Sie selbst eine Pflicht. Sie sind nicht nur die nächste, sondern auch einzige Verwandte des Verstorbenen. Ihnen steht das Recht zu, Auskunft zu fordern.“

„Ist ein Testament vorhanden?“ fragte Franziska mit vor Angst erstickter Stimme.

„Nein!“

„Mein Herr! Mein Herr!“ stammelte sie, und ein freudiger Schreck durchbebte ihren ganzen Körper.

„Hier ist kein Testament gemacht und deponirt. Daß der Herr Oberst an einem andern Orte über sein Vermögen verfügt haben sollte, bezweifle ich, denn in allen Rechts- und Familiensachen war ich sein Rathgeber und Beistand. Ich glaube, Sie als die Erbin von Adersheim begrüßen zu können. Erlauben Sie, daß der alte Gerichtshalter der erste ist, der seiner neuen Herrin huldigend die Hand küßt.“

Und er zog die zarte Hand Franziska’s an seine weißen, schmalen Lippen.

Das war ein jäher Uebergang von der schmerzlichsten Demüthigung zur stolzesten Freude. Sie hätte den Mann in die Arme schließen mögen, dessen Ausspruch alle ihre Feinde vernichtete.

„Lieber Herr,“ sagte sie, „ich ersuche Sie, mir nicht nur Rathgeber und Rechtsbeistand, sondern auch ein Freund zu sein. Die Herrin von Adersheim wird Ihnen diesen ersten Dienst zu lohnen wissen, zählen Sie darauf. Doch verschweigen Sie so lange unsere heutige Unterredung, bis über die volle Rechtsmäßigkeit meiner Erbschaft kein Zweifel mehr obwaltet. Hier ist meine Adresse. Senden Sie mir über alle Vorgänge Nachricht. Am Begräbnißtage sehen Sie mich wieder.“

„Ich beeile mich, dem Obergerichte Anzeige zu machen. In wenig Wochen werden Sie Einzug halten können.“

Franziska besuchte noch einmal die Leiche des Onkels, das sie jetzt Anstandes wegen für nöthig hielt, dann verließ sie das Schloß, ohne von Eberhard von Detmar und Marianne Abschied zu nehmen. Sie brachte die erste Nachricht von dem plötzlichen Tode des Obersten nach der Residenz. Denselben Abend sah man sie schwarz gekleidet in einer Loge des Opernhauses. Es war nicht zu läugnen, daß ihr die tiefe Trauer reizend stand. Die zarte Farbe ihres Gesichts ward durch den eleganten schwarzen Florhut, zum schneeigen Weiß gehoben. Durch die Spitzen schimmerten die runden Schultern wie matter Alabaster. Aber Franziska trauerte nur durch die Kleidung, ihr Herz hätte vor Wonne und Siegesjubel zerspringen mögen. Sie hatte Mühe, ihren Zustand zu verbergen. Dies wäre ihr fast zur Unmöglichkeit geworden, als sie Walther von Linden in einer Loge der ihrigen gegenüber erblickte, wie er mit seinem glänzenden Lorgnon forschend zu ihr herüber sah. Es schien, als ob er sich von der Identität der trauernden Dame mit ihrer Person überzeugen wollte. In einem der Zwischenacte verließ er plötzlich seinen Platz.

„Er hat mich erkannt, er kommt!“ dachte sie mit einer unbeschreiblichen Wonne. „An ihm werde ich mein erstes Strafgericht üben.“

Sie hatte sich nicht getäuscht. Nach einigen Minuten öffnete die Schließerin die Thür der Loge und Walther trat ein. Sie dankte durch ein kaltes, stolzes Kopfnicken auf seinen Gruß.

„Mein Gott, Franziska,“ fragte er eifrig, „Sie sind in tiefer Trauer – was ist geschehen?“

„Treibt Sie die Theilnahme oder die Neugierde?“ fragte sie mit einer reizenden Impertinenz.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_494.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2016)