Seite:Die Gartenlaube (1854) 465.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 40. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Kopf und Herz.

Von A. v. W.

I.

Es war an einem der letzten schönen Herbsttage des Jahres 1840, als Morgens gegen neun Uhr das Thor des Schlosses Adersheim geöffnet ward, und ein leichter Jagdwagen, mit zwei muthigen Pferden bespannt, über die Brücke rollte, welche die beiden Ufer des ziemlich breiten Schloßgrabens verband. In dem Sitze des offenen, eleganten Wagens saßen zwei Männer, deren Ausrüstung ihre Absicht errathen ließ. Ein Jeder trug an der Seite Tasche und Pulverhorn, und vor sich hielt er ein doppelläufiges Gewehr. Auf dem niedern Bocke neben dem schon ergrauten Kutscher saß ein schlanker, brauner Hühnerhund, der Liebling des alten Barons von Adersheim; zwei andere jagten kläffend hinter dem Wagen her.

Der ältere der beiden Jäger war der Besitzer des Schlosses, Friedrich Baron von Adersheim. Er war ein großer, stattlicher Mann von gesundem Aussehen, und obgleich er bereits achtundfünfzig Jahre zählte, obgleich sein Haupt und sein großer Schnurrbart mehr weiße als dunkele Haare enthielt, so erlaubte ihm dennoch seine kräftige Constitution, daß er seiner leidenschaftlichen Liebe zur Jagd ohne Beschwerden nachhängen konnte. Der Baron war nicht nur als ein passionirter Jäger, sondern auch als ein guter, wackerer Mann bekannt, der allgemein geachtet und geliebt ward. Er hatte früher als Oberst in der königlichen Armee gedient, war vor zwölf Jahren ausgeschieden, und lebte seit dieser Zeit auf dem von dem Vater ererbten Rittergute, das für die reichste Besitzung in der ganzen Provinz galt.

Der Oberst war nicht verheirathet, obgleich er die Frauen gern sah. Bei seinem großen Vermögen und seinem leutseligen, verträglichen Charakter blieb seine Ehestandslosigkeit ein Räthsel; doch einige Jugendfreunde, zu denen auch sein gegenwärtiger Begleiter gehörte, wußten, daß er nicht aus Abneigung oder Vorurtheil unvermählt geblieben, sondern daß er das Andenken an seine erste Jugendliebe heilig hielt, deren Gegenstand, ein reizend schönes Mädchen aus dem Bürgerstande, ihm durch den Tod entrissen war. So lebte er einsam auf seinem Schlosse; die Leitung seiner ausgebreiteten Oekonomie war seine Beschäftigung, und die Jagd seine Freude und Zerstreuung.

Friedrich war zur Zeit, in der unsere Erzählung beginnt, der einzige Repräsentant der alten Familie Adersheim, denn sein jüngerer Bruder war vor zwei Jahren gestorben, nachdem er ein ziemlich bedeutendes Vermögen vergeudet hatte, so daß seiner einzigen Tochter Franziska, einem stolzen, hochfahrenden Fräulein, nichts geblieben, als die kleine Hinterlassenschaft der Mutter, die aus Gram über den zum Spiele und Trunke geneigten Gatten drei Jahre früher gestorben war. Die Feindschaft, die seit langer Zeit zwischen den beiden Brüdern geherrscht, hatte ihren ersten Grund in der Charakterverschiedenheit, und später in dem wüsten Leben, dem sich der Verstorbene ergeben. Franziska hatte die Abneigung ihres Vaters gegen den Obersten getheilt, und nicht selten mit großer Heftigkeit über den filzigen Hagestolz, wie sie ihn nannte, gesprochen. Seit dem Tode ihres Vaters jedoch hatte sie sich dem Onkel, den sie sonst verächtlich gemieden, wieder zu nähern gesucht, und sie war einige Mal auf Adersheim gewesen, ohne den Onkel anzutreffen. Der Oberst, obgleich Gehässigkeit nicht in seinem Charakter lag, suchte sich der Annäherung seiner Nichte, deren Grund er kannte, zu entziehen. Hatte er auch die von dem übermüthigen Fräulein erlittenen Kränkungen vergessen, so konnte er sich dennoch nicht entschließen, sie in dem verschwenderischen Leben des Vaters zu unterstützen, das sie auf ihre Weise fortsetzte.

Der Begleiter des Barons war ein westphälischer Edelmann, Eberhard von Detmar. Beide waren zu gleicher Zeit in die Armee eingetreten, hatten zusammen die Kadettenschule besucht, und jene Freundschaft sich bewahrt, die, in der Jugend angeknüpft, unwandelbar für das ganze Leben bleibt. Eberhard war auf einer Geschäftsreise begriffen, und verweilte einige Tage bei seinem Freunde, den er seit einer langen Reihe von Jahren nicht gesehen hatte. Beide fuhren heute, an dem letzten Tage ihres Beisammenseins, auf die Jagd. Der Morgen war schön, und die Freunde befanden sich in der heitern Laune, die günstiges Jagdwetter bei den Jägern stets zu erzeugen pflegt.

Unter Gesprächen, die sich meist um die fröhlich verlebten Jugendjahre drehten, hatte man nach einer halben Stunde ein anmuthiges Wäldchen erreicht. Am Rande desselben lag ein kleines, reinliches Gehöft, dessen rothes Ziegeldach und schneeweiße Mauern freundlich durch die gelben Bäume blickten. Der glatte Feldweg führte dicht an dem Thore vorüber, in dem ein junger Mann stand, und ehrerbietig grüßte.

„Guten Morgen, Philipp!“ rief der Baron. „Wie geht es Deiner alten Mutter?“

„Sie befindet sich wohl, gnädiger Herr!“

„Sage ihr, daß sie mich nächsten Sonntag besucht.“

„Zu dienen!“

„Auch läßt Marianne grüßen.“

„Danke, danke!“ rief Philipp dem dahinfahrenden Wagen nach, der in der nächsten Minute hinter einer Waldecke verschwand

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_465.jpg&oldid=- (Version vom 22.4.2020)