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fügte sie bitter hinzu, indem sie sich über den seufzenden Tisch lehnte, „so vernimm ein Geheimniß, das Du eigentlich nie hättest erfahren sollen – höre mich an, und Du wirst meinen festen Willen gerechtfertigt, wirst ihn nicht mehr grausam finden. Dein Vater, der schönste Offizier seines Regiments, liebte in seinem dreiundzwanzigsten Jahre ein zwar schönes und sittsames junges Mädchen, aber es war arm und von zweifelhafter Herkunft. Man nannte Julie ein Fräulein von Selmar, ihr Vater, hieß es, sei in einem Duelle mit einem Polen gefallen, und deshalb lebe sie bei ihrem Vormunde, einem alten Militär, der aus Holland eine kleine Pension bezog. Victor, Dein Vater, hielt um das Mädchen an, der Vormund willigte ein, und mich zwang man durch List und Ueberredung, diese Ehe zu segnen. Mein Verstand rieth mir davon ab, aber mein mütterliches Herz gab dem ungestümen Drängen nach. Die jungen Leute hatten sich heimlich in Altona trauen lassen, und mir blieb nichts, als gute Miene zum bösen Spiele zu machen. O, noch sehe ich das schöne Paar vor mir, und ich muß bekennen, daß es mein Mutterherz mit einem geheimen Entzücken erfüllte. Man hatte den noch jungen Lieutenant für reich gehalten, und Victor war schwach genug, die Welt in dieser Meinung zu bestärken. Seine junge Frau, die er anbetete, umgab er mit Glanz und Luxus, und jemehr man ihn um ihren Besitz beneidete, je verschwenderischer ward seine Liebe, so daß nach zwei Jahren von dem kleinen väterlichen Erbtheile nichts mehr übrig war. Da wurdest Du geboren, Klementine, aber der leichtsinnige, verblendete Victor konnte des Vaterglücks nicht froh werden, da sich der Mangel einzustellen begann. Um der jungen Mutter die wahre Lage zu verbergen, nahm er zum Spiele seine Zuflucht. Anfangs begünstigte ihn das Glück und machte ihn kühn; aber bald wandte ihm Fortuna den Rücken, und Victor, der sonst so brave junge Mann, war nicht allein mit Schulden belastet, er ward auch, um die Entbehrung von seiner Gattin abzuwenden, ein falscher Spieler.“

Klementine schauderte zusammen. Erbleichend starrte sie die aufgeregte Erzählerin an.

„Begreifst Du auch,“ fuhr Frau von Falk fort, „begreifst Du auch ganz, wie tief Dein Vater gesunken war? Und zu diesem Falle hatte ihn sein sentimentales, romantisches Gemüth gebracht. Er war ein zärtlicher Ehemann, aber ein schlechter Offizier, den seine Kameraden verachteten und mieden. Der erste Fehltritt zog bald den zweiten nach sich – Victor, der junge, unerfahrene Mann von fünfundzwanzig Jahren ließ sich durch die Noth verleiten – seine Frau lag auf dem Krankenbette – einen falschen Wechsel auszustellen. Nun war Alles geschehen, was ihn brandmarken konnte, das Offiziercorps trat zusammen, bezahlte den Wechsel, und gab, aus besonderer Rücksicht auf die obwaltenden Umstände, meinem Sohne den Rath, sofort seine Entlassung zu nehmen, ehe sie von dem General-Commando dekretirt werden würde. Ihm blieb nichts, als diesen Rath zu befolgen. Da stand nun der arme, verachtete Mann an dem Krankenbette seiner Gattin, an der Wiege seines lieblichen, unschuldigen Kindes, dessen Zukunft der Vater abgeschnitten hatte. Und fragen wir nun nach der Ursache dieser gräßlichen Zustände? Victor liebte, ohne den Verstand zu fragen; Victor war seiner Neigung gefolgt, ohne die Rathschläge vernünftiger, ruhig denkender Personen zu hören; er hatte über der Romantik die Wirklichkeit vergessen, die mit unerbittlicher Strenge ihre Forderungen geltend macht. Und dabei war er ein guter, rechtlicher Mann. Der Grundsatz: „Ein Herz und eine Hütte, Dich oder Keine,“ kann jetzt nicht mehr in Anwendung gebracht werden, und vorzüglich bei Leuten, denen Rang und Stand, sowie Gewohnheiten des Lebens, die Beobachtung von Aeußerlichkeiten gebieten. Als ich, von der Reise zurückgekehrt, das Unglück meines Sohnes erfuhr, war an eine Abhülfe nicht mehr zu denken, auch wenn ich sie meinerseits hätte ermöglichen können. Jeder sah mitleidig und verächtlich auf meinen Sohn herab, obgleich man allgemein die Motive seiner Handlungen kannte. Nun begrub er sich mit seiner Frau und seinem Kinde in ein einsames Dorf, wo er von dem lebte, was ich ihm sandte. Aber lange ertrug sein Stolz die Annahme von Almosen nicht; er empfahl mir Weib und Kind, und nahm Dienste in dem holländischen Heere, das damals gegen Belgien und Frankreich im Felde stand. Jetzt konnte und mußte er sich von der trennen, ohne die er früher nicht leben zu können geglaubt. Ja, mein Kind, jetzt ließ er seine angebetete[WS 1] Julia, um dem Tode entgegen zu gehen. Was der Liebe unmöglich war, vollbrachte die Noth und der Stolz. Wo blieb die Romantik, die Sentimentalität? Hätte er zwei Jahre früher die Kraft besessen, die ersten heftigen Regungen seines Herzens durch den Verstand zu beherrschen, er würde mir den Kummer und sich die Last eines erbärmlichen Lebens erspart haben, die er außerdem noch zwei unschuldigen Geschöpfen aufbürdete. Ich sorgte mütterlich für meine unglückliche Schwiegertochter und für meine Enkelin, denn Beide waren unschuldig an dem harten Schicksale. Den ersten und letzten Brief schrieb Victor von Antwerpen aus, wo er als Freiwilger unter dem General Chassé diente und die Citadelle besetzt hielt. Wie erschütternd war dieser Brief! Mein Sohn schrieb mir, er wolle durch Muth und Tapferkeit sich eine ehrenvolle Stellung verschaffen, die ihm erlaubte, für seine Familie zu sorgen, oder untergehen. Das war Verzweiflung, mein Kind! Und wer hatte ihn dazu getrieben? Blinde Liebe! Du siehst, der verheirathete Mann dachte schon ganz anders, als der glühende Liebhaber. Ernst von Below steht in demselben Alter, in dem Dein Vater damals stand, und seine Verhältnisse sind genau dieselben. Unterbrich mich nicht, Klementine, ich bin noch nicht zu Ende, und Du sollst Alles wissen.

„Es verflossen sieben Jahre, in denen ich von meinem Sohne keine Nachricht erhielt. Ich wähnte ihn gefallen in dem Kampfe um die Citadelle von Antwerpen, den die Zeitungsberichte als einen der blutigsten in der Geschichte schilderten. Während Du fröhlich emporblühetest, ward Deine arme Mutter von Gram und Kummer verzehrt, denn sie klagte sich an, den Grund zu Victor’s Unglück gelegt zu haben. Ihre zarte Körperkonstitution vermochte den nagenden Seelenschmerz nicht lange zu tragen – sie welkte langsam dahin, bis sie auf das Krankenlager sank. Eines stürmischen Novemberabends saß ich an ihrem Bette, die Vergangenheit zog meinem betrübten Geiste vorüber, und schaudernd gedachte ich der schrecklichen Folgen jener leichtsinnig geschlossenen Ehe. Da klopfte es an die Thür des kleinen Hauses, das ich damals auf dem Lande auch im Winter bewohnte, weil mein geringes Einkommen mir das Leben in der Stadt nicht erlaubte. Ich selbst öffnete die Thür. Ein Mann, gehüllt in einen alten Militärmantel, trat ein. Es war mein Sohn, der vom Schicksale zurückgeführt ward, um noch einmal seine Gattin zu sehen, die in derselben Nacht starb. Da stand nun der arme Mann an der geliebten Leiche – seine starren, trockenen Blicke verriethen deutlich die Verzweiflung, die sein Herz zermalmte. Mutter, rief er aus, ich habe ein schweres Vergehen zu büßen, denn ich habe diese hier gemordet! Wäre ich ihr mit wahrhafter, ruhiger Liebe zugethan gewesen, ich hätte sie nie an mein ungewisses Schicksal fesseln müssen! Dann stürzte er an das Bett seiner siebenjährigen Tochter, an Dein Bett, Klementine, und sank weinend auf die Knie nieder. Der Anblick des ruhig schlummernden Kindes mit dem rosigen Gesichte hatte die Erstarrung des Herzens gelöst, dem armen Vater rannen heiße Thränen über die abgehärmten Wangen. Nun verbrachte er drei schmerzliche Tage in meinem Hause. Du erinnerst Dich jener Zeit wohl noch, und da wir öfter schon davon gesprochen, übergehe ich sie; aber eine Scene theile ich Dir mit, die Du nicht kennst, und die Dir beweisen soll, daß ich selbst die Verpflichtung habe, über die Neigungen Deines Herzens zu wachen und Dich von gefährlichen Schritten abzuhalten.

„Am Abend des Begräbnißtages Deiner unglücklichen Mutter trat Victor, Dein Vater und mein Sohn, zu mir in das Zimmer. Mutter, sagte er im Tone kalter Entschlossenheit, klagen Sie mich nicht der Muthlosigkeit an, wenn ich an meiner Zukunft verzweifele, denn ein hartes Geschick hat mir eine Stellung in der Welt angewiesen, der mich zu entreißen meine gebrochene Kraft zu gering ist. Diese Ansicht hat die Erfahrung bestätigt, und sie ist in mir zur Ueberzeugung geworden. Das Alter der Illusionen ist vorbei, und der ruhige Verstand sieht das Leben, wie es ist. Ich habe eine Tochter, an der mein ganzes Herz hängt, aber ich kann ihr Glück nicht begründen. Nehmen Sie sich des verwaisten Mädchens an, und erziehen Sie es in Ihren Grundsätzen. Von der richtig geleiteten Bildung des Herzens hängt das Leben ab – Mutter, gründen Sie das Glück Klementine’s, und bewahren Sie sie vor der gefährlichen Klippe, an der mein Lebensschiff scheiterte. Das schwöre ich Dir! rief ich aus, und reichte ihm die Hand. Ich überwache als Mutter Dein Kind, und ist es mir noch vergönnt, sie einem Lebensgefährten zuzuführen, so wird es nur einem solchen sein, der sie vollkommen glücklich zu machen befähigt ist. – Nun scheide ich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: angebete
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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_443.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)